Die nächste Klinik ist nicht immer die beste
Deutschlands Krankenhausstruktur lässt zu wünschen übrig, argumentiert der Gesundheitsökonom Reinhard Busse. Es gibt zu viele kleine, nicht spezialisierte Häuser, die wenig Erfahrung und Personal haben, so sein Credo. Er spricht sich für eine Umstrukturierung aus, die auch den Pflegenotstand lindern könnte. Wie gut eine Schließung kleinerer Kliniken aufgefangen werden kann, kommt etwa auf die Entfernung zum nächsten Krankenhaus an oder auf die ärztliche Versorgung vor Ort. In diesem Zusammenhang liefert das Interview pointiert wichtige Denkanstöße.
GPSP: Wie steht es in Deutschland um die Krankenhausqualität?
Wir haben auf jeden Fall ein Problem. Wir haben sehr viele Krankenhausbetten, die auf viele Kliniken verteilt sind. Das führt zu zwei Problemen: Einerseits werden die Krankenhäuser belegt mit Patienten, die gar nicht im Krankenhaus behandelt werden müssen. Und zweitens werden viele Patienten, die behandelt werden müssen, in Krankenhäusern behandelt, wo sie nicht so gut behandelt werden. Weil es an technischer oder personeller Ausstattung mangelt.
GPSP: Wie ist es dazu gekommen?
Früher hatten auch andere Länder diese historische Struktur mit vielen kleineren Krankenhäusern. Das war auch richtig in Zeiten, als es keine Rettungswagen gab und der kurze Weg zur Klinik viel wichtiger war. Vor allem wurden die Patienten anders behandelt. Als ich in den Achtziger Jahren noch studiert habe, war die Behandlung eines Herzinfarkts einfach Ruhe. Der Patient lag zwei Wochen im Bett, und dieses Bett konnte dann in einem kleinen Krankenhaus nah am Wohnort stehen.
GPSP: Und heute gibt es stattdessen Intensivmedizin?
Heute haben wir intensivere Eingriffe. Bei einem Herzinfarkt werden oft die Herzkranzgefäße geröntgt, ein Stent in einen Engpass gelegt. Das sind komplizierte und auch zügig durchzuführende Eingriffe. Das erfordert einerseits die technische Ausrüstung, andererseits qualifiziertes Personal, das auch vor allem rund um die Uhr da ist. Das ist nur in Kliniken mit genügend Patienten möglich. Wir haben in Deutschland pro Tag 500 neue Fälle mit Herzinfarkt, die verteilen sich aber auf fast 1.400 Krankenhäuser.1 Das heißt, ein durchschnittliches Krankenhaus sieht alle drei Tage einen entsprechenden Patienten. Da kann man natürlich nicht erwarten, dass die Fachärzte rund um die Uhr einsatzbereit stehen. Es ist vielen gar nicht klar, dass die nächstgelegene Klinik häufig auf solche Notfälle gar nicht vorbereitet ist.
GPSP: Wie würde eine sinnvolle Struktur aussehen?
Heute sieht das Krankenhaussystem in vielen Ländern ganz anders aus. Dänemark, die Niederlande, Schweden und Italien haben in den letzten Jahrzehnten die Versorgung umgestaltet und auf weniger, dafür aber größere Häuser gesetzt. Wir haben das bisher verpasst.
GPSP: Schaden denn nicht längere Wege in der Notfallversorgung?
Bei Notfällen ist es natürlich wichtig, dass sie so schnell wie möglich versorgt werden. Oft wird aber schon bis zum Rufen des Rettungswagens Zeit verschwendet. Hier könnten wir durch Aufklärung Zeit gewinnen. Die Qualität der Rettungswagen und ihrer Besatzung muss sichergestellt sein, weil auch schon unterwegs einiges gemacht werden kann. Und dann darf man nicht vergessen: Je nach Bundesland stellen wir sicher, dass der Patient nach 20 bis 30 Minuten im Krankenhaus ist. Aber wenn ich am Wochenende oder nachts ankomme, sind in kleineren Häusern die Fachärzte gar nicht da. Sie müssen erstmal gerufen werden. Der Arzt braucht dann nochmal länger für den Weg in die Klinik als der Patient. Wenn der Rettungswagen also jetzt an so einem Krankenhaus vorbeifahren und mich in ein größeres und besser ausgestattetes bringen würde, wo die Ärzte rund um die Uhr da sind, dann komme ich insgesamt deutlich schneller an meine fachgerechte Versorgung. Zu denken, dass ich durch viele kleine Häuser besser versorgt bin, ist eine Milchmädchenrechnung.
GPSP: Wie schneiden wir beim Behandlungserfolg im internationalen Vergleich ab?
Es gibt Krankheiten, bei denen wir in Deutschland ganz ordentlich dastehen, bei Schlaganfällen zum Beispiel. Das liegt aber auch daran, dass hier viele Patienten in Krankenhäuser mit Schlaganfalleinheiten kommen. Bei Patienten mit Herzinfarkt verteilen sich die Patienten wie gesagt auf 1.400 Krankenhäuser, aber nur 559 davon haben die Ausstattung, um die Herzkranzgefäße zu untersuchen.2 Und hier hängt Deutschland zurück. In Deutschland sterben etwa 8 Prozent der Patienten mit Herzinfarkt, in Dänemark sind es halb so viele. Und es geht bei uns um viele Menschen, um etwa 14.000 Todesfälle. Wenn wir die Quote von Dänemark hätten, wären es nur 7.000.3 Das müsste uns als Bürger eigentlich viel stärker umtreiben.
GPSP: Was kann man aus Untersuchungen innerhalb Deutschlands schließen?
Wenn ich hier in ein Krankenhaus gehe, wo mehr Patienten mit Herzinfarkt betreut werden, ist das Sterberisiko deutlich kleiner, als in den Krankenhäusern, die wenige Patienten betreuen.4
GPSP: Wenn die Beweislage eindeutig ist, warum ist es denn so schwer, das System zu ändern und Krankenhäuser zu schließen?
Das scheitert schon häufig daran, dass Politiker das Problem noch nicht realisiert haben. Dann muss auch die Bevölkerung mehr in einen Dialog einbezogen werden, die Bürgermeister in den Orten, wo die Krankenhäuser stehen, an Bord gebracht werden.
Kliniken sind häufig die größten Arbeitgeber am Ort. Wobei das sogar nicht primär ein Problem vom Land ist, viele kleine Krankenhäuser stehen nämlich in den Städten. Erschwerend kommt hinzu, dass wir in Deutschland gesetzlich die Vielfalt der Träger schützen, also öffentliche, gemeinnützige und private.
GPSP: Trägt nicht auch die zunehmende Kommerzialisierung zum Problem bei?
Das ist ein wichtiger Aspekt. Der ökonomische Druck nach den vergangenen Reformen führt dazu, dass uns das Problem verborgen bleibt, weil die Krankenhäuser voll bleiben. Doch die Betten werden eben belegt mit Patienten, die es eigentlich gar nicht benötigen. Einerseits sind das Menschen, die operiert werden, etwa mit Eingriffen an der Wirbelsäule, bei denen man weiß, dass das nicht immer notwendig wäre.5 Oder Patienten, die zwar behandelt werden müssen, aber nicht stationär, mit Diagnosen wie Herzinsuffizienz, Angina pectoris, Diabetes und Rückenschmerzen. Bei solchen Leiden ist die Wahrscheinlichkeit im Krankenhaus zu landen in Deutschland doppelt bis dreifach höher als in anderen Ländern.6 Das ist natürlich ein Problem, weil diese Patienten trotzdem den Gefahren einer Klinik ausgesetzt sind, Krankenhauskeimen zum Beispiel. Sie binden dazu noch Pflegepersonal und Ärzte, die eigentlich woanders dringender gebraucht werden. Das heißt, durch den Anreiz, so viele stationäre Betten zu belegen, verschlechtern wir die Qualität noch zusätzlich.
Jetzt verfolgt die Politik das Ziel, zusätzliche Stellen in der Pflege zu schaffen.
Ich halte das für Quatsch. Wenn wir ein Drittel weniger Patienten stationär behandeln würden bei gleich viel Personal, dann würde eine Pflegekraft, die heute zehn Patienten betreut, nur sieben Patienten betreuen. Wir haben viel zu viele Betten mit viel zu vielen darin unnötig behandelten Patienten – und suchen jetzt für die unnötigen Betten noch Pflegepersonal. Das ist politisch eine Schnapsidee. Gemessen an der Bevölkerung haben wir nämlich genug Pflegepersonal, zumindest in den Krankenhäusern.
GPSP: Was können Bürgerinnen und Bürger tun?
Umdenken! Problematisch ist hier zum Beispiel, wenn sie gegen die falschen Dinge protestieren, wie das Schließen eines kleinen Krankenhauses. Wir brauchen hier Aufklärung, damit Bürgerinnen und Bürger nicht gegen ihre eigenen Interessen demonstrieren. Zum Beispiel bei der Geburtshilfe, da haben wir bei einer Geburt bei einem Notfall nur Minuten. Und wenn dann der Arzt von zu Hause kommen muss, ist es ein Desaster. Wenn also Bürger gegen die Schließung der Geburtshilfe auf Sylt protestieren, muss man ihnen eigentlich sagen, dass sie das Leben ihrer Kinder aufs Spiel setzen. Da ist es bei einer Risikoschwangerschaft besser, bereits kurz vor der Geburt in ein Krankenhaus zu gehen, das auch Frühchen gut versorgen kann. Bei akuten Notfällen muss der Rettungshubschrauber her.
GPSP: Was sollte man sonst als Patient oder Patientin beachten?
Wenn ein niedergelassener Arzt eine Operation empfiehlt, sollte man auf jeden Fall eine Zweitmeinung einholen. In ganz vielen Fällen sagt dann der Zweite, dass eine Operation gar nicht notwendig ist.
GPSP: Und bei einem Notfall?
Wer mit dem Rettungswagen oder durch die Notaufnahme kommt, dem sollte auch das Risiko bewusst sein, dass das Krankenhaus einen eventuell dabehalten will. Wenn ich als Patient in Deutschland in die Notaufnahme gehe, liegt die Wahrscheinlichkeit bei 50 Prozent, dass man mir sagt, ich müsste stationär aufgenommen werden. In anderen Ländern sind es nur 22 bis 33 Prozent.7 Als Patient sollte ich das hinterfragen und mich nach dem Grund erkundigen.
GPSP: Ist das nicht eine zusätzliche Belastung für Patienten?
Das ist ein ganz schwieriger Balanceakt. Einerseits braucht das System das Vertrauen der Patienten. Andererseits ist eben auch Skepsis angebracht, weil wir so viele unnötige Eingriffe haben. Das erfordert ein Umdenken. Das Krankenhaus hat auch finanzielle Interessen, und das muss mir als Patient bewusst sein. Das ist dann auch gar nicht die Idee des Arztes, der mich nachts um drei behandelt, sondern das ganze Umfeld, das dieses Denken bedingt. Der Patient muss in der gegenwärtigen Situation die Abläufe stark hinterfragen. Das ist nur eine „Notfalllösung“, solange die Politik Qualität nicht adäquat sicherstellen kann.
GPSP: Was kann ich also tun, um in die richtige Klinik zu kommen?
Krankenhäuser sind verpflichtet, Qualitätsberichte abzugeben. Sie werden u.a. von der Bertelsmann Stiftung gesammelt und als Weiße Liste im Internet zur Verfügung gestellt. Auch Krankenkassen wie die AOK bieten diese Informationen. Da stehen bei manchen Eingriffen die Erfolgszahlen drin.
Ganz wichtig ist hier aber die Anzahl der Eingriffe überhaupt. Ein Nachbar hat sich zum Beispiel ein Hüftgelenk implantieren lassen. Er hat sich ein Krankenhaus ausgesucht, das diesen Eingriff 14 Mal im Jahr gemacht hatte. Und ein anderes, nur wenig weiter entferntes, hatte 650. Die machen also pro Woche so viel wie andere im ganzen Jahr und haben viel mehr Erfahrung. Und Erfahrung ist in der Medizin sehr wichtig, besonders, wenn etwas schiefgeht.
Das ist auch bei Geburten ganz wichtig, das machen sich werdende Eltern nicht oft genug klar, um nochmal darauf zu kommen. Ein Viertel der 713 Krankenhäuser mit Abteilungen für Geburtshilfe kommen auf höchstens 533 Geburten pro Jahr, also weniger als eineinhalb pro Tag.1 Dann ist der Gynäkologe oder die Gynäkologin natürlich nicht 24 Stunden am Tag dort. Nur ein Viertel der Krankenhäuser hat mindestens 1.350 Geburten, also rund vier am Tag. Die werden ganz anders organisiert sein. Vor allem ist das Fachpersonal da.
GPSP: Kann man den Patienten und Patientinnen zumuten, diese Kriterien selbst zu lesen und einzuschätzen?
Das ist natürlich nicht immer einfach. Wenn ich das selber nicht lesen kann, kann ich meinen Hausarzt fragen. Auch die Krankenkassen bieten telefonische Beratungen an.
GPSP: Was sagen die Bewertungen des IQTIG, des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen aus, die kürzlich veröffentlicht wurden?
Das betrifft die sogenannten planungsrelevanten Qualitätsindikatoren, die eigentlich alle Krankenhäuser erfüllen müssen, und wenn nicht, sollen die Behörden eingreifen. Von den knapp 1.100 Krankenhäusern, von denen die Daten da waren, hatten das ursprünglich ungefähr 200 nicht geschafft. Einige konnten das rechtfertigen. Es sind 70 übriggeblieben, deren Ausreden nicht akzeptiert wurden, wie zum Beispiel: „Wir kontrollieren manche Dinge nach Operationen nicht, weil der Arzt sagt, er habe ein gutes Gefühl.“ Bei solchen Fällen würde ich auch davon ausgehen, dass es nicht nur die Abteilung betrifft, sondern das ganze Krankenhaus, weil das zeigt, dass man hier die Patienten nicht ernst nimmt. Ich würde diese 70 Häuser meiden und lieber ein paar Kilometer weiterfahren. Die Indikatoren wurden ja auch so gewählt, dass eine Reserve miteingeplant ist. Zwanzig Minuten bei einem notfallmäßigen Kaiserschnitt etwa. Wenn man nicht mal das einhalten kann, dann wird es richtig problematisch – und dies war bei 12 Kliniken der Fall.
GPSP: Was wird mit diesen Krankenhäusern jetzt passieren?
Vermutlich wenig. Die Politik ist auch hier großzügig. Zunächst hieß es: Nur wenn ein Haus drei Jahre hintereinander ein Problem hat, sollten die Behörden einschreiten. Bayern sagte aber gleich, dass man sich nicht mal daran halten will – und andere Länder nehmen ebenfalls diese Haltung ein. Das IQTIG soll noch andere Kriterien entwickeln, um nicht schlechte, sondern gute Qualität zu messen. Dann kann es von den Krankenkassen mehr Geld für gelungene Eingriffe geben. Auch das gibt es schon im Ausland. Denn zurzeit ist es so, dass sich schlechte Qualität für ein Krankenhaus finanziell lohnen kann. Der Patient bleibt dann länger, wird noch nachoperiert. Bis also die Politik bessere Qualität sicherstellt und die Anreize dafür schafft, müssen die Patienten mit den Füßen abstimmen.
GPSP: Vielen Dank für das Gespräch.
Stand: 1. März 2019 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 02/2019 / S.19