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Bloß nicht ins Bett

Wer Rückenschmerzen hat, braucht Bewegung

Viele Menschen leiden irgendwann einmal unter Kreuz- oder Rückenschmerzen, ohne dass eine ernsthafte Erkrankung dahinter steckt. Manchmal werden sie zum Dauerthema, sie werden chronisch. Seit über zehn Jahren ist der medizinischen Fachwelt bekannt, dass Schonung und Ruhe bei den meisten Rückenschmerzpatienten eine Chronifizierung fördern. In Leitlinien für Ärzte zur Behandlung von Rückenschmerzen steht deshalb die Ermunterung zu Bewegung und Förderung von Aktivität an oberster Stelle.2 Wir fragten Dr. Eva-Kristin Renker, warum die Realität der Behandlung oft anders aussieht.

GPSP: Sie haben ein heißes Eisen angepackt, indem Sie unter die Lupe genommen haben, wie Rückenschmerzen von niedergelassenen Orthopäden behandelt werden.

Renker: Das stimmt. Aber wir konnten nicht wissen, was bei unserer Befragung von Patienten mit Rückenschmerzen herauskommt.

Und was war das?

Dass noch immer zu viele Patienten bei Rückenschmerzen mit passiven Maßnahmen behandelt werden, also mit Spritzen, Bettruhe und Krankschreibungen. Dabei weiß man, dass Patienten davon vielleicht kurzfristig profitieren, aber die Schmerzen auf längere Sicht nicht besser werden.

Mit anderen Worten, die Patienten werden falsch behandelt. Die Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften empfehlen ja längst ganz anderes.1 Was hilft denn Rückenschmerzgeplagten?

Das, was man aktivierende Maßnahmen nennt. Wenn es sich um so genannte „einfache Rückenschmerzen“ handelt, also wenn es keine Hinweise auf schwerwiegende Erkrankungen gibt, dann sollte der Arzt seinem Patienten vor allem die Angst nehmen. Viele Menschen denken, dass Rückenschmerzen etwas Schlimmes sind und vermeiden es, sich zu bewegen. Der Arzt oder die Ärztin sollte mit ihnen über diese Angst sprechen, sie zu körperlicher Aktivität ermuntern und dafür sorgen, dass der Patient möglichst in seinem Lebens- oder Arbeitsumfeld bleibt oder rasch dorthin zurückfindet.

Also, er soll ihn möglichst nicht krankschreiben?

Möglichst nicht. Wer mal Rückenschmerzen hat, kann mit einem Schmerzmittel wie Ibuprofen oder Paracetamol oft zu seinen Alltagsaktivitäten zurückfinden, was dann die Therapie aktiv unterstützt. Bewegung fördert die Durchblutung, verspannte Muskeln werden gelockert und Gelenke bewegt. Wenn der Magen es verträgt, kann kurzzeitig auch Diclofenac hilfreich sein.

Aber viele bekommen doch noch immer Massagen oder Fangopackungen verordnet und haben den Eindruck, dass ihnen das nützt.

Eben das ist Teil des Pro­blems. Diese passiven Maßnahmen sind durchaus im Moment angenehm, nur längerfristig sind sie wenig nützlich. Sie verhindern kaum, dass die Schmerzen chronisch werden, und bei Menschen mit chronischen Rückenschmerzen, zeigte sich in unserer Studie ebenfalls viel zu selten Besserung.

Und woran liegt es, dass Patienten den Eindruck haben, dass ihnen zum Beispiel Bettruhe oder nicht zur Arbeit gehen zu müssen gut tut?

Rückenschmerzen haben ganz unterschiedliche Ursachen. Gerade auch wenn sie chronisch werden, spielt die Psyche eine große Rolle. Streit in der Familie und andere belastende Ereignisse, etwa am Arbeitsplatz, können ausschlaggebend sein. Daher sind viele froh, wenn ihnen Ruhe verordnet wird und sie etwa am Arbeitsplatz nicht das machen müssen, was sie nicht machen wollen. Dann tut auch nichts weh. Wer krank ist, erhält außerdem Zuwendung und Fürsorge in der Familie oder durch den Freundeskreis. Das nennt man den sekundären Krankheitsgewinn.

Der hat aber nichts mit dem Vorspielen von Beschwerden zu tun?

Nein, überhaupt nicht. Die Rückenschmerzen sind da. Wie wichtig neben körperlichen Faktoren auch die psychische Belastung ist, lässt sich daran ablesen, dass Patienten mit chronischen Rückenschmerzen heute in guten Zentren immer multimodal behandelt werden und hiervon profitieren. Diese Strategie entspricht den Leitlinien und bedeutet, das Problem von mehreren Seiten anzugehen: Mit Physiotherapie – besser bekannt als Krankengymnastik – und mit Bewegungstherapie, die Muskultur und Gelenke aktiviert, mit gezielter Schmerztherapie, aber auch mit Hilfe von Ergotherapeuten, die etwa durch einen angepassten Arbeitsplatz dafür sorgen, dass der Betroffene seinen Arbeitsalltag wieder bewältigen kann. Und Psychotherapie kommt bei vielen Menschen dazu.

Welche Rolle spielen Kuren?

Wenn sie mit einer multimodalen Therapie verbunden sind, können sie sinnvoll sein. Aber nur ein wenig Krankengymnastik und ein bisschen Wärmebehandlung, davon halte ich nichts.

Sie haben schon gesagt, dass psychische Belastungen durchaus Auslöser von Rückenschmerzen sein können. Was sind andere Faktoren, die erklären können, warum angeblich acht oder sogar neun von zehn Menschen irgendwann in ihrem Leben Rückenschmerzen bekommen?

Heutzutage ist das Hauptproblem ein Mangel an Bewegung. Der Mensch ist nicht dafür gebaut, viel zu sitzen. Das machen wir aber. Die Wirbelsäule ist nur dann stabil und wird in ihrer Form gehalten, wenn die Muskulatur, also die Rumpf-, Rücken- und Bauchmuskeln kräftig sind.3 Deshalb ist es jedem zu empfehlen, sich viel zu bewegen und Sport zu treiben. Schwimmen, Fahrrad fahren, auch Skilanglauf oder einfach zu wandern, sind gute Ausgleichsmöglichkeiten bei unserem bewegungsarmen Alltag.

Oft wird behauptet, Frauen die ihr Baby tragen, müssten mit Rückenproblemen rechnen.

Renker (lacht): Also, normalerweise nicht. Wenn Sie überlegen, wie viele Kinder weltweit getragen werden.

Und wie ist es bei Kindern, die mit schweren Schultaschen oder Rucksäcken unterwegs sind? Können die dadurch Rückenprobleme bekommen?

Im Prinzip ja, wenn diese Taschen regelmäßig schwerer sind als 10 Prozent des Körpergewichts und viel getragen werden müssen. Bei Kindern sind die Knochen noch nicht so stabil und die Muskulatur ist noch in der Entwicklung. Es kann sogar zu bleibenden Schäden kommen. Im Übrigen müssen Rückenschmerzen bei Kindern ernstgenommen werden. Dahinter können bakterielle Entzündungen stecken, auch ein Bandscheibenvorfall, und manchmal kommt es zu Wirbelgleiten. Das beobachten wir besonders bei Kindern, die auf Leistung turnen, bei jungen Speerwerfern oder Kugelstoßern. Wenn solche Erkrankungen ausgeschlossen sind, muss allerdings auch mal daran gedacht werden, dass Kinder sich die Beschwerden bei einem Elternteil abgucken und unbewusst imitieren.

Wenn wir noch mal an den Anfang zurückkehren könnten: Wie erklären Sie sich, dass Fachärzte etwas verordnen, was doch nicht nachhaltig hilft?

Die niedergelassen Ärzte, deren Patienten an unserer Studie teilgenommen haben, kommen leicht in die Situation, dass ihr Patient sagt, das oder das habe geholfen. Und wenn er dreimal äußert, dass ihm die Spritze oder der Fango gut getan hat, wird der Arzt ihm vermutlich das Gewünschte verordnen. Sonst hat er einen unzufriedenen Patienten, was sich kein Arzt wünscht, und riskiert ja auch, einen Kunden zu verlieren.

Andererseits entstehen dadurch überflüssige Kosten für unnütze Therapien. Was lässt sich dagegen ausrichten?

Das eine sind regelmäßige Fortbildungen für Ärzte über den neuesten Stand der Leitlinien und mehr multimodale Therapieangebote. Das andere Wichtige ist die Aufklärung der Patienten über das, was ihnen nachhaltig hilft und was ihnen schadet.

Frau Renker, wir danken Ihnen, dass Sie dabei geholfen haben.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 03/2010 / S.14