Zum Inhalt springen
© Ridofranz/ iStockphoto.com

Haltlos im Becken

Vaginalnetze: Medizinprodukt mit Risiken

Über ihren Beckenboden sprechen Frauen meist nicht gerne, schon gar nicht, wenn er Probleme macht. Sehr beeinträchtigend kann es sein, wenn Blase, Gebärmutter oder Darm absinken. Bei der Behandlung sind sogenannte Vaginalnetze nicht die erste Wahl.

Beckenboden: Dass es ihn gibt, erfahren viele Frauen erst bei der Schwangerschaftsgymnastik. Der Beckenboden ist eine Platte aus Muskelgewebe, die Harnblase, Gebärmutter und Darm stützt. Ist diese Muskulatur zu schwach, kann das unangenehme Folgen haben: Die inneren Organe können absinken, selten sogar so weit, dass sie durch die Scheidenöffnung sichtbar werden.

Rund jede zweite Frau ist im Laufe ihres Lebens von einer leichten Beckenbodenschwäche betroffen, bei etwa drei Prozent aller Frauen ist diese Senkung auch mit Beschwerden verbunden. Das können ein Druckgefühl sein, Rücken- oder Unterbauchschmerzen, Probleme beim Wasserlassen oder Stuhlgang sowie Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Weil auch die Blase nicht mehr ausreichend unterstützt wird, kann ein schwacher Beckenboden auch zu ungewolltem Harnverlust führen (Stress- oder Belastungsinkontinenz).1

Schmerzen und Infektionen

Eine Senkung der Organe kann unterschiedlich behandelt werden. Negative Schlagzeilen haben in diesem Zusammenhang vor einiger Zeit vor allem die Risiken von „Vaginalnetzen“ gemacht: Dabei handelt es sich um Netze aus dem Kunststoff Polypropylen, die im Bauchraum vernäht werden. Sie wurden ursprünglich vor allem bei Nabel-, Leisten- oder Narbenbrüchen verwendet, wo sie auch heute noch eine wichtige Rolle spielen. Bei Frauen mit einer Organsenkung wurden sie etwa ab der Jahrtausendwende eingesetzt. Sie sollten den schwachen Beckenboden der Patientin unterstützen und damit die Organe im Unterleib stabilisieren. Allerdings fehlten bei Markteinführung für dieses Anwendungsgebiet Langzeitstudien und bei so behandelten Frauen häuften sich Komplikationen. Sie berichteten von chronischen Schmerzen, Infektionen, Blutungen, Schmerzen beim Sex oder sogar der Verletzung anderer Organe.3

Und das sind keine bedauerlichen Einzelfälle: Eine große Studie verglich Vaginalnetze mit traditionellen Operationsmethoden, bei denen das Gewebe des Beckenbodens gestrafft wird. Dabei zeigte sich: Vaginalnetze verbesserten die Ergebnisse nicht, führten aber bei mehr als jeder zehnten Patientin zu ernsthaften Nebenwirkungen.2 In Großbritannien, wo Vaginalnetze früher häufig als erste Behandlungsoption galten, musste bei einer von 15 so behandelten Frauen das Netz später ganz oder teilweise entfernt werden.3 Es laufen Klagen gegen Hersteller, mehrere Modelle wurden vom Markt genommen. In Australien, Neuseeland und Großbritannien sollen die Netze vorerst nicht mehr eingesetzt werden.

In Deutschland nur ein kleineres Problem

Hierzulande wurden die Netze deutlich zurückhaltender verwendet als in Großbritannien.4 Die deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe empfiehlt in ihrer Leitlinie Vaginalnetze nur in besonderen Situationen: So sollen sie nur eingesetzt werden, wenn nach einer normalen Operation der Beckenboden erneut absinkt oder wenn Operationstechniken ohne Netz bei einer sehr starken Organsenkung beziehungsweise einer ausgeprägten Bindegewebsschwäche voraussichtlich nicht erfolgreich sind.5

Die Zurückhaltung gegenüber den Netzen ist vermutlich einer der Gründe dafür, dass bisher nur wenige Meldungen zu Komplikationen bei der zuständigen Aufsichtsbehörde, dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), eingegangen sind.6

Zu niedrige Hürden bei Markteinführung

An den Vaginalnetzen werden aber auch grundsätzliche Probleme rund um Medizinprodukte deutlich: 2018 schauten sich britische Forscher die Dokumentation zu mehr als 60 Typen von Vaginalnetzen genauer an und stellten fest, dass für keines zum Zeitpunkt der Produktfreigabe eigene klinische Studien vorlagen. Vielmehr konnten sich die Hersteller auf Zulassungsunterlagen von Netzen beziehen, die zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Markt waren. Für den Nachweis von Wirksamkeit und Sicherheit der neueren Netztypen waren das jedoch offensichtlich unzureichende Belege.7

Dass es so weit kommen konnte, liegt insbesondere an den Regeln für Medizinprodukte. Sie werden in der EU nicht wie Arzneimittel nach aufwendigen Studien von einer zentralen Stelle staatlich zugelassen, sondern lediglich von privatrechtlichen „Benannten Stellen“ (wie beispielsweise dem TÜV) zertifiziert. Dafür sind in der Regel deutlich geringere Anforderungen zu erfüllen als bei Arzneimitteln. Die Überwachung von Medizinprodukten liegt in Deutschland bei den Behörden der Bundesländer.

Das BfArM ist zwar zuständig für die Erfassung und Auswertung von Risiken, die bei der Verwendung von Medizinprodukten auftreten, ist aber darauf angewiesen, dass Probleme gemeldet werden – entweder von Patientinnen selbst, den Herstellern oder von Ärztinnen und Ärzten. Und selbst wenn das BfArM Änderungen an einem Medizinprodukt für notwendig hält, kann es diese nicht durchsetzen, sondern kann nur eine Empfehlung an Hersteller und Überwachungsbehörden des jeweiligen Bundeslandes aussprechen – die sich aber nicht an diese Empfehlung halten müssen.

Geplante Veränderungen

Die Regeln für Medizinprodukte sind auch durch die Ende 2018 veröffentlichten Recherchen des internationalen Konsortiums investigativer Journalisten („Implant Files“) wieder vermehrt in die Kritik geraten.8 In diesem Kontext wurden auch Forderungen laut, die Befugnisse des BfArM in Sachen Medizinprodukte zu erweitern und ein zentrales Register einzurichten, sodass Probleme früher auffallen und besser analysiert werden können. Für Implantate wird in Deutschland ein entsprechendes Gesetz vorbereitet. Inzwischen gibt es auch eine neue Richtlinie, die die Anforderungen an Medizinprodukte EU-weit verschärft. Allerdings gelten bis 2020 noch Übergangsvorschriften. In den USA wurden Mitte April alle Vaginalnetze verboten.9

Inkontinenz
GPSP 6/2009, S. 12

Medizin­produkte
GPSP 6/2012, S. 17

PDF-Download

– Gute Pillen – Schlechte Pillen 03/2019 / S.08