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Die weiße Weste von Big Tobacco

Nikotin im Lutschbeutel

Zigaretten sind für das Marketing der Tabakindustrie inzwischen verbrannt: Hat sich mittlerweile doch ihre schädliche Wirkung herumgesprochen, und außerdem gibt es starke Werbebeschränkungen. Deshalb haben seit einiger Zeit andere Produkte mit einem vermeintlich sauberen Image, wie E-Zigaretten und Tabakerhitzer, die Bühne betreten. Im nächsten Akt haben Nikotinbeutel ohne Tabak ihren großen Auftritt. Aber wie das Drama ausgeht, ist derzeit noch offen.

Braune Finger, gelbe Zähne, Lungenkrebs – und auf den Packungen müssen eklige Bilder abgedruckt werden. Zigaretten und Co. anzupreisen, ist für die Marketing-Abteilungen der Tabakindustrie inzwischen schwierig geworden. Wer aber denkt, dass die Verantwortlichen jetzt nur noch Däumchen drehen, kann sich bei einem Blick ins Internet vom Gegenteil überzeugen. Denn die Anbieter haben sich inzwischen auf nicht weniger lukrative Produkte spezialisiert, die alle eins gemeinsam haben: Es wird kein Tabak verbrannt. Beworben werden etwa Tabakerhitzer, bei denen Tabakdampf statt -rauch entsteht, oder E-Zigaretten, bei denen eine Flüssigkeit (E-­Liquid) verdampft wird.

Weniger Schaden?

Die Werbung wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass bei diesen Produkten weniger schädliche Substanzen entstehen als beim Zigarettenrauchen. „Harm reduction“ (auf Deutsch: Schadensminderung) heißt die Marketing-Zauberformel. Tatsächlich: Wenn nichts verbrannt wird, entstehen auch keine Verbrennungsprodukte, von denen einige nachgewiesenermaßen krebs­erregend sind. Allerdings gibt es Hinweise auf gesundheitsgefährdende Substanzen im Dampf der Tabakerhitzer und E-Zigaretten – und zur Langzeitsicherheit ist bisher wenig bekannt.

Suchtgift Nikotin

Und natürlich enthalten die Produkte allesamt Nikotin, das unbestritten zu körperlicher und seelischer Abhängigkeit führt. Nikotin steht außerdem im Verdacht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu fördern. Und es gibt Hinweise, dass es möglicherweise auch zur Krebsentstehung beiträgt. Alles gute Gründe, die Finger ganz vom Nikotin zu lassen. Nicht so die Tabakindustrie, die seit einigen Jahren versucht, ihr durch das Schmuddelkind Zigaretten befleckte Image aufzupolieren.

Nicht mehr ganz sauber?

„Clean“, „all-white“, „ganz ohne Verfärbungen“ – was sich nach Waschmittelreklame anhört, sind in Wirklichkeit Werbeslogans für Nikotinbeutel, die jüngste Ergänzung im Sortiment von Big Tobacco. Die „Pouches“, wie sie im Marketing-Sprech auch genannt werden, sind kleine Beutelchen aus Zellulose, die mit Fasern, Aromastoffen und Nikotin gefüllt sind, aber keinen Tabak enthalten. Die Nutzer:innen sollen sich die Beutelchen hinter die Lippen klemmen, das freigesetzte Nikotin wird dann über die Mundschleimhaut aufgenommen. Vertrieben werden die Pouches inzwischen von vielen großen Tabakkonzernen wie British Ame­ri­can Tobacco („Velo“) oder Reemtsma („Skruf“). Hinzu kommen weitere Anbieter, die bisher nichts mit Tabak zu tun hatten.

Wer sich jetzt an den Kautabak („Priem“) aus alten Zeiten erinnert fühlt oder die in Schweden gebräuchlichen Tabakbeutel („Snus“), liegt nicht ganz falsch. Aber die Anbieter beeilen sich, alle Assoziationen mit ekligem gelbem Tabaksaft im Mund und Spucknäpfen schnell zu unterbinden: Von einer „hygienischen Anwendung“ ist die Rede. Und sie weisen auch darauf hin, wie „diskret“ die Anwendung doch sei, selbst auf der Arbeit oder in der Bahn. Subtext: „Damit ihr nicht wegen eurer Sucht geächtet werdet.“

Eindeutige Zielgruppe

Die Internet-Seiten der Anbieter sind recht eindeutig, wen sie ansprechen wollen: junge Erwachsene. Die Bilder zeigen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren, die jede Menge Spaß haben und dabei auch mal was riskieren. Die Seiten sprechen die Sprache ihrer Zielgruppe: Fehlt beim Spaß doch nur noch der richtige „Push“ durch Nikotin, den selbstverständlich die „Pouches“ liefern, in Geschmacksrichtungen wie Beere, Minze, Zitrone oder Espresso – nice! Und weil in dieser Altersgruppe das Geld oft eher knapp ist, locken im Internet Gratisangebote zum Probieren, niedrige Einstiegspreise und satte Rabatte bei Bestellung mehrerer Dosen.

Das passt in das Bild, das eine Recherche der britischen Journalistenvereinigung „The Bureau of Investigative Journalism“ von den neuen Marketing-Methoden der Tabak-Industrie zeichnet:1 Weltweit versuchen die Unternehmen, ihre Zielgruppe über Influencer auf Social-Media-Kanälen wie Instagram und TikTok zu erreichen. Auch gesponserte Konzerte beliebter Bands und Festivals gehören zum Marketing-Repertoire (zumindest vor der Corona-Pandemie).

Scheinheilige „Selbstbeschränkung“

Über solche Aktivitäten können auch nicht die „Werbestandards“ hinwegtäuschen, die sich die Tabakunternehmen in ihrem Lobbyverband „Bundesverband der Tabakwirtschaft und neuartiger Erzeugnisse“ gegeben haben.2 Großzügig verzichten sie dabei auf die Werbung bei Kindern und Jugendlichen, die laut deutschem Jugendschutzgesetz ohnehin keine nikotinhaltigen Produkte kaufen dürfen.

Ebenso soll sich die Werbung nur an Erwachsene richten, die bereits Tabak- oder Nikotinprodukte verwenden. Wie eine interne Untersuchung von British American Tobacco zeigt, hat jedoch die Hälfte der Nikotinbeutel-Nutzer:innen zuvor nicht geraucht. Das spricht dafür, dass die Pouches junge Erwachsene zum Nikotinkonsum verleiten.6

„Mit Pflanzenfasern“

Formal weisen die Anbieter auf das starke Abhängigkeitspotenzial von Nikotin hin und warnen Risikogruppen wie Schwangere oder Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes. Hinweise auf die weiteren möglichen Risiken von Nikotin fehlen aber.

An mehreren Stellen taucht in der Werbung auf, dass Pflanzenfasern enthalten sind und Nikotin ein natürlicher Bestandteil der Tabakpflanze wäre. Das ist inhaltlich zwar korrekt, sprachlich aber leicht als Versuch zu durchschauen, den Nikotinbeuteln ein „grünes Image“ zu verpassen – als wäre Tabak gesund, weil er „natürlich“ ist.

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Verstoß gegen eigene Regeln

Andere Aussagen in der Werbung sind unserer Ansicht nach als klarer Verstoß gegen die selbstauferlegten Regeln zu werten. So heißt es in den Werbestandards: „Wir erwecken in der Werbung nicht den Eindruck, dass der Konsum tabakfreier Nikotinbeutel bei der Rauchentwöhnung hilft oder an die Stelle einer Nikotinersatztherapie treten kann.“ Die Werbung ist da aber viel unverblümter: „Du möchtest endlich Nichtraucher werden oder suchst nach einer Alternative, die komplett rauchfrei ist? Dann kann VELO der richtige Zigarettenersatz für dich sein.“

In der Grauzone

Rechtlich betrachtet hat sich die Tabakindustrie mit der Vermarktung der Nikotinbeutel eine Nische in einer rechtlichen Grauzone gesucht: Weil kein Tabak enthalten ist und – anders als die E-Zigaretten – die Pouches im Tabak-Gesetz nicht explizit als „verwandte Produkte“ genannt werden, gelten die entsprechenden Regelungen nicht, etwa was Werbebeschränkungen angeht. Auch auf EU-Ebene fehlen bislang gesetzliche Vorgaben.

Unbesteuert

Ebenso wenig greift in Deutschland die Tabaksteuer. Da sich die Verkaufspreise in der Größenordnung von Zigarettenpackungen bewegen, bleibt für die Anbieter mehr Gewinn. Ob sich das künftig ändern könnte, so wie es für nikotinhaltige E-Zigaretten ab Mitte 2022 geplant ist, steht derzeit noch in den Sternen: Dafür müsste erst die EU-Tabaksteuerrichtlinie entsprechend angepasst werden. Mit einem ersten Entwurf dafür ist laut Bundesfinanzministerium erst Ende des Jahres zu rechnen – und ob sich eine Tabaksteuerpflicht dann durchsetzen lässt, ist offen.3

Ein Lebensmittel?

Inzwischen ist es in der Grauzone aber ungemütlicher geworden: Die Aufsichtsbehörden der Länder haben sich geeinigt, dass sie Nikotinbeutel rechtlich als Lebensmittel einstufen. Genauer gesagt: Als neuartiges Lebensmittel, weil Nikotin üblicherweise kein Bestandteil von Lebensmitteln ist.4 Die Konsequenz dieser Einstufung: Die Anbieter müssten eigentlich einen Zulassungsantrag bei der EU stellen und dabei die gesundheitliche Unbedenklichkeit belegen.

Wahrscheinlich gesundheitsschädlich

Das ist bisher nicht passiert, und es könnte schwierig werden. In der wissenschaftlichen Literatur haben wir zwar keine Untersuchungen zu möglichen Risiken der Nikotinbeutel finden können. Die Aufsichtsbehörden der Länder sind aber zu dem Schluss gekommen, dass die Nikotinmenge, die in den Körper gelangt, als gesundheitsschädlich einzustufen ist.6

Die handelsüblichen Pouches enthalten zwischen 4 und 20 Milligramm Nikotin, und es gibt keinerlei Beschränkungen für den täglichen Konsum. Zum Vergleich: Nikotin-Kaugummis, die für die Raucherentwöhnung verwendet werden, enthalten 2 oder 4 Milligramm Nikotin, die Tageshöchstdosis ist auf maximal 60 Milligramm festgelegt.

Die Bundesregierung hat inzwischen das Bundesinstitut für Risikobewertung mit umfassenden Untersuchungen der gesundheitlichen Auswirkungen beauftragt. Das Ergebnis wird aber vermutlich erst 2022 vorliegen.5 Was ist zulässig?

Auf der Basis der bisherigen Einstufungen haben Aufsichtsbehörden in mehreren Bundesländern den Verkauf bestimmter Nikotinbeutel-Sorten in Tabakgeschäften und Kiosken untersagt. Allerdings können sich diese Bemühungen mangels gesetzlicher Grundlage immer nur gegen konkrete Produkte oder Anbieter, nicht aber gegen alle Marken von Nikotinbeuteln, richten.

Mehrere Gerichte haben inzwischen die Auffassung der Aufsichtsbehörden bestätigt, einige Verfahren sind aber noch nicht rechtskräftig abgeschlossen. Allerdings waren einzelne Anbieter mit einstweiligen Verfügungen erfolgreich und vertreiben ihre Produkte weiter. Andere Anbieter haben den Vertrieb ihrer Pouches über den Handel vor Ort vorerst ausgesetzt. Über Internet-Shops sind die Nikotinbeutel jedoch weiterhin problemlos zu beziehen.

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Wie geht es weiter?

Ein Bericht der EU-Kommission zur Tabak-Richtlinie stellte im Mai 2021 fest, dass für Nikotinbeutel in der Tat derzeit ein rechtliches Schlupfloch besteht, das bei der Überarbeitung der Richtlinie geschlossen werden sollte.6 Wie sich die Regulierung entwickelt und ab wann gesetzliche Änderungen in Kraft treten, lässt sich bislang nicht abschätzen. In Belgien hat die zuständige Behörde ein Nikotinbeutel-Produkt wegen des hohen Nikotingehalts und des suchtfördernden Potenzials als Arzneimittel eingestuft und den Vertrieb wegen der fehlenden Zulassung verboten.7

Wie auch immer das Ganze ausgeht: Nikotinbeutel sind kein harmloses Produkt, sondern eine Strategie der Industrie, angesichts des sinkenden Zigarettenabsatzes neue Gewinnquellen zu erschließen.

E-Zigaretten
GPSP 6/2019, S. 12

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 04/2021 / S.19