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Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm

Selja Ahava (2014) Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm. Übersetzung: Stefan Moster, Hamburg: mareverlag, 224 Seiten, 20 €

Die finnische Autorin Selja Ahava hat einen ungewöhnlichen Roman zum Thema Demenz geschrieben. Das Besondere: Es ist keine Geschichte über das Vergessen – im Gegenteil: Dies ist eine Geschichte über das Erinnern. Das Buch beschreibt die Lebensgeschichte einer dementen Frau aus ihrer eigenen Wahrnehmung heraus.

Im Mittelpunkt steht Anna, die auf der Bettenstation von Haus Rosenhügel in Zimmer 12 wohnt. Sie bekommt Besuch, Gott persönlich schaut vorbei und erzählt, wie es um ihr Sommerhaus auf einer finnischen Insel steht. Und schon ist der Leser mitten drin in Annas Erinnerungen. Wir begleiten sie durch die gemeinsamen Stunden mit ihrem Mann Antti in Finnland, bis er bei einem Autounfall ums Leben kommt, und durch ihre Londoner Zeit mit Tom, mit dem sie niemals wirklich glücklich geworden ist.

Innerhalb weniger Zeilen kann Anna, für den Leser unbemerkt, zwischen Räumen und Zeiten hin- und hergleiten. Gerade bringt sie in London Liina-Liina, Ahti Joonas und ihre vier weiteren Kinder zu Bett, schon rudert sie im nächsten Moment durch finnisches Gewässer. Grenzen zwischen Vorstellung und Wirklichkeit verschwimmen. Hatte man nicht gerade erfahren, dass ihre Ehe eigentlich kinderlos war, wundert man sich als Leser. Sprechende Bären laufen durch die Wohnung, ein Wal schwimmt die Themse entlang – eigentlich ist alles real, oder doch nicht? Ist Anna noch in der Gegenwart, oder vielleicht schon wieder in Erinnerungen an Vergangenes? Bei der Lektüre meint man manchmal, die Orientierung zu verlieren. Aber das ist gar nicht schlimm – man nimmt die Dinge ja aus Annas Sicht war, und für Anna ist eben alles so, wie es ist.

Anna entführt die Leserinnen und Leser in ihre Parallelwelten, die aber nicht nur schön sind. Sie ärgert sich, wenn fremde Menschen in ihrem Bett liegen. Oder wenn ihr offenbar irgendjemand, während sie schlief, zwei Hosen übereinander angezogen haben muss. Und Anna schämt sich, wenn sie beim Spaziergang merkt, dass sie mit nassen Hausschuhen im Schnee steht. Irgendwann steht fest: „In Annas Gedächtnis fehlten kleine Teile.“ Auch wenn Anna überzeugt ist, den anderen fiele das nicht auf. Nachdem sie ihr Essen auf dem Herd vergessen hat und fast die Wohnung abbrennt, bringt ihr Bruder sie zum Arzt. Sie fühlt sich „übers Ohr gehauen: Ein kleines Missgeschick, und plötzlich mischten sie sich in alle möglichen Privatangelegenheiten ein.“ Der Gedächtnistest ist irgendwie demütigend, aber Anna lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie hat ja ihre Erinnerungen. Und die hat sie eifrig gesammelt. „Wäre es möglich, Augenblicke einzufrieren, würde ich diesen in eine Plastikdose legen. Dann könnte man den Winter über davon zehren.“

Ein wunderbar poetisches Buch aus der Sicht einer Frau, die ganz allmählich in die Demenz gleitet. Das Buch kann eine leise Ahnung vermitteln: Ja, so könnte es sich vielleicht anfühlen.

 

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 03/2014 / S.16