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© W. Cohen iStock

AWMF: Alles Retro, oder was?

Glosse

Käse-Igel. Schlaghosen. ABBA-Revival. Offenbar ist irgendwann der Punkt gekommen, wo Menschen sich nach den guten alten Zeiten zurücksehnen. Jetzt hat die Retro-Welle auch einen wichtigen Verband erfasst: die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), die in Deutschland die Erstellung von Leitlinien koordiniert, also sich um unabhängige wissenschaftliche Standards für gute ärztliche Behandlung kümmern soll, und auch bei der Bewertung neuer Medikamente ein gewichtiges Wort mitredet.

Mit Formulierungen wie aus den 1970er-Jahren preist der Verband die Zusammenarbeit mit der Industrie im Gesundheitssektor. Zwei Stellungnahmen1 entwerfen ein wunderbares Bild, wie Industrie, Ärztinnen und Ärzte miteinander auf einer Weide grasen, aber natürlich bleiben die jeweiligen Pfründe streng getrennt und keiner denkt auch nur daran, einen fetten Büschel Gras auf die andere Seite zu schieben oder diesen gar anzunehmen. Und wenn die Industrie für Futter sorgt und den Unterstand bezahlt, in dem sich die Schafe, ääh, Mediziner:innen zum fachlichen Austausch treffen können, ist das einfach nur fürsorglich gemeint. Sonst werden doch alle nass, und schließlich gibt es Richtlinien, die dafür sorgen, dass nie nie nie Probleme mit Interessenkonflikten entstehen. Wer auf die Schwierigkeiten mit dieser „natürlichen“ und „befruchtenden“ Kooperation hinweist, und dass die Regeln bekanntermaßen nicht so funktionieren wie gedacht, ist nur ein ideologischer Futterneider.

Es könnte alles so schön und harmonisch sein. Dumm nur, dass sich jetzt an vielen Ecken der Weide der Widerstand gegen solche Verharmlosungen regt.2 Dazu gehört auch eine Fachgesellschaft, die Mitglied in der AWMF ist und in ihrer Gegenstellungnahme von kontroversen internen Diskussionen zu den Papieren berichtet. Da gibt es also Stunk im Stall. Ganz berechtigt, denn da liegt mit den Stellungnahmen ziemlich viel Mist: Wissen wir aus der Forschung doch, dass Interessenkonflikte und das Sponsoring von Fortbildungsveranstaltungen das ärztliche Wissen und Handeln verzerren können, zum Nachteil von Patient:innen. Und eigentlich ist das auch der AWMF bekannt.3
Woher kommt dann der Richtungswechsel? Liegen irgendwo noch anrüchige Häufchen, über die jetzt Stroh gescharrt werden soll? Versucht da jemand, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen? Oder waren alle vorherigen Bemühungen um mehr Unabhängigkeit bei Leitlinien ein Versehen und versucht die AWMF, jetzt den Karren aus dem Dreck zu ziehen?

Apropos Karren: Vielleicht sollte mal jemand der AWMF stecken, dass Retro nicht bedeutet, mit Vollgas auf der Autobahn rückwärts zu fahren. Sonst folgt vielleicht bald die nächste Stellungnahme mit dem alten Witz: „Ein Geisterfahrer? Ich sehe hier hunderte.“

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 03/2022 / S.16