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Selbsthilfegruppen auf Abwegen

Patienten in den Fängen der Industrie

„Das Wesen der Selbsthilfe ist die wechselseitige Hilfe auf der Basis gleicher Betroffenheit.“ So heißt der erste Satz auf der Webseite von der Selbsthilfe Kontakt- und Informationsstelle (Sekis). Aber aus vielen Selbsthilfegruppen sind Patientenorganisationen geworden, zum Teil mit großem Budget und finanziert von Arzneimittelfirmen. Über die Folgen sprachen wir mit Erika Feyerabend.

GPSP: Im Jahr 2010 haben deutsche Patientenorganisationen vom Schweizer Pharmakonzern Roche 737.000 € erhalten. Der pharmazeutische Landsmann Novartis spendierte über 670.000 €, und der US-Konzern Pfizer war mit 485.000 € dabei.1 Welchen Einfluss hat das viele Geld auf die Selbsthilfe?

Erika Feyerabend: Das ist genauso wie bei Ärzten, die von Pharmareferenten Geschenke annehmen oder sich zu Kongressen ins Strandhotel einladen lassen. Da entstehen Interessenkonflikte. Arzneimittelfirmen sind keine Wohltätigkeitsvereine. Sie wollen ihre Produkte absetzen und Profit erzielen.

Wozu kann das konkret führen?

Wenn pharmagesponserte Patientenorganisationen ihre Mitglieder über Behandlungsmöglichkeiten aufklären, dann geschieht das unter Einflussnahme der Industrie. Das läuft nicht so platt ab, dass einfach das Medikament eines Sponsors hochgejubelt wird – eine Werbung, die ja bei verschreibungspflichtigen Mitteln verboten ist.2 Sondern es ist ein schleichender Prozess. Man fokussiert seinen Blick auf die medikamentöse Therapie – auch wenn es andere Behandlungsformen gibt –, und man wird seine Sponsoren sicher nicht öffentlich kritisieren.

Man verliert so die kritische Distanz?

Sicher! Wenn Patientenorganisationen zu Tagungen Referenten aus der Industrie einladen, dann bringen die ja durchaus fachliche Expertise mit. So entsteht leicht ein persönliches Vertrauensverhältnis, und die Arzneifirma wird positiv besetzt. Warum also nicht deren Logo auf den eigenen Jahreskalender oder die Homepage setzen. Aber dadurch entsteht in der Selbstdarstellung eine symbolische Angleichung. Problematisch ist vor allem, dass Industriegelder enorme Abhängigkeit schaffen.

Worauf spielen Sie an?

Selbsthilfeorganisationen erhalten auch Geld von Krankenkassen und staatliche Förderung. Aber bei Pharmafirmen fließt es meist viel üppiger, regelmäßiger, verlässlicher. Zum Beispiel hat die Deutsche Leberhilfe e.V. 2010 eine Viertelmillion Euro von der Industrie erhalten. Auch Patientenorganisationen mit weniger Zuwendungen können so den einen oder anderen Mitarbeiter finanzieren oder ein Projekt anschieben, schönere Büros mieten, sich einen Geschäftsführer leisten – um den Preis, abhängig von den jährlich einkalkulierten Geldern zu werden.

Gibt es Beispiele dafür, dass ein Pharmakonzern Druck auf eine Patientenorganisation ausgeübt hat?

Auch das. Seit es spezielle Medikamente gegen Multiple Sklerose gibt, erhält die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft e.V. von den Herstellerfirmen eine Menge Geld, der Berliner Landesverband zum Beispiel für ein Aufklärungsprojekt über Behinderung am Beispiel von MS. Eine der fördernden Firmen, Biogen Idec, wollte vor einigen Jahren durchsetzen, dass sie die Selbsthilfemitarbeiter dieses Projekts schult, und zwar auch für ihr neu zugelassenes MS-Präparat Tysabri®.3 Das hat der Vorstand abgelehnt und die Beziehungen abgebrochen. Aber das ist nicht so einfach, wenn man auf den einen Sponsor angewiesen ist.

Haben kritische Berichte über solche Einflussnahmen Folgen gehabt?

Die öffentliche Aufmerksamkeit für solche Übergriffe ist gestiegen, und in den Patientenorganisationen wird mehr über die ungleiche „Partnerschaft“ nachgedacht. Das hat zu Leitsätzen für die Zusammenarbeit mit Wirtschaftsunternehmen geführt, an die sich Mitglieder der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe und des Paritätischen Gesamtverband e.V. halten müssen. Und es wurde eine Beobachtungsstelle für diese Zusammenarbeit eingerichtet. Allerdings wird freiwillige Selbstkontrolle zum zahnlosen Tiger, wenn es keine öffentliche Kontrolle gibt.

Kennen Sie Selbsthilfeorganisationen ohne Verbindung zur Industrie?

Die Gruppe Breast Cancer Action e.V. propagiert offen ihre Pharmaunabhängigkeit und leistet ohne Industriegelder sehr gute Arbeit für Frauen mit Krebs. Die Psoriasis Selbsthilfe Arbeitsgemeinschaft e.V. hat mal die Reißleine gezogen: Als die sehr teuren Biologika gegen Schuppenflechte auf den Markt kamen, haben die Hersteller Betroffene aus der Selbsthilfe mit Psoriasistagen und Kongresseinladungen gewissermaßen eingespannt, um diese Mittel hochzuloben. Durch kritische Berichte fiel es aber dem Vorstandsvorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft wie Schuppen von den Augen, und er hat sich selbst an die Öffentlichkeit gewandt, um Mechanismen der Einflussnahme publik zu machen. Seitdem betont diese Selbsthilfeorganisation „finanziell und sachlich eine kritische Distanz zu den wirtschaftlichen Akteuren im Gesundheitswesen“ zu haben.4

Was sollten Patientenorganisationen machen, die nicht ganz auf Industriegelder verzichten wollen, um ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen?

Wenn überhaupt, dann hilft nur eins: Transparenz. Das heißt, alle Geldflüsse offenlegen – auch im Internet. Es geht da nicht nur um Sponsorenverträge, sondern auch um Geld für Marketingmaßnahmen der Organisation oder um Kampagnen, die eine Agentur plant, die auch für den Pharmakonzern arbeitet.5

Mit der alten Selbsthilfe und ehrenamtlicher Arbeit hat das alles nicht mehr viel zu tun.

Ein Riesenproblem ist, dass gewissermaßen eine Ästhetik der Selbsthilfe entstanden ist, die sich an den Standards der Werbebranche orientiert. Mit kleinem Budget ist das nicht zu bewältigen. Denn Hochglanzbroschüren und Aufmerksamkeitskampagnen sind dadurch fast schon ein Muss. Auch die Erwartungen an Patientenorganisationen sind gestiegen. Ihre Mitarbeiter verhandeln mit Krankenkassenvertretern, begeben sich in die Politik. Sie möchten und sollen auf Augenhöhe mit anderen Experten sein. Aber viel davon ist eine Illusion, und das Machtgefälle zwischen Akteuren im Gesundheitswesen wird übersehen.

Wie kommt das?

Pharmakonzerne finanzieren Patientenorganisationen für chronische Erkrankungen – manchmal gründen sie sie sogar selbst.6 Denn da „lohnt sich“ eine Einflussnahme besonders. Manche der Betroffenen werden mit der Zeit zu „professionellen Kranken“ mit öffentlichen Auftritten und bemerken nicht mehr, wie ihr Denken von den Vermarktungsinteressen der Arzneimittelanbieter gelenkt wird. Sie fühlen sich nicht beeinflusst und meinen schon dadurch unabhängig zu sein, dass sich nicht nur ein Konzern finanziell bei ihnen „engagiert“, sondern mehrere. Aber leider geht durch Industrienähe das Bewusstsein für die ursprüngliche Aufgabe von Selbsthilfe verloren.

Wenn Sie die noch mal umreißen.

Das ist viel mehr als Zugang zum besten Medikament zu fordern, sondern auch die Frage, wie ich und andere mit der Erkrankung leben. Welche Unterstützung von Versicherungsträgern und vom Staat kann ich beanspruchen? Wie können wir soziale Isolation durch Krankheit oder Mobilitätseinschränkungen vermeiden?

Aber um seine Interessen durchzusetzen, braucht man starke Partner.

Das sollten eben nicht die Hersteller des Medikaments sein, das vielleicht gar nicht hilft. Es gibt unabhängige Experten und Geld von Stiftungen, Krankenkassen oder Ministerien, das weniger abhängig macht. Arzneimittelfirmen haben nicht umsonst Mitarbeiter, die sie gezielt auf Patientenorganisationen ansetzen. Das gilt natürlich für Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln und Medizinprodukten ebenso.

Frau Feyerabend, vielen Dank, dass Sie kein Blatt vor den Mund genommen haben.

Wie Sie die Glaubwürdigkeit einer Selbsthilfeorganisation prüfen können, lesen Sie auf unserer Webseite unter „Tipps und Themen“.

PDF-Download

– Gute Pillen – Schlechte Pillen 02/2012 / S.12