Wissenschaftlich erwiesen … Etikettenschwindel?
Impfgegner, Anhänger der Chemtrail-Verschwörung, Leugner von Klimawandel und Aids: Sie alle verbindet ein tiefes Misstrauen gegen die Wissenschaft wegen angeblicher Widersprüche. Aber: Woher weiß man, welche Fakten stimmen und wie sie zu bewerten sind?
In Zeiten der „alternativen Fakten“ hat es die Wissenschaft schwer. Aber ist sie daran nicht auch selbst schuld? Schließlich vergeht keine Woche, in der nicht eine neue Studie die bisherigen Erkenntnisse scheinbar widerlegt. Wie soll man da einer Zunft vertrauen, die sich auf den ersten Blick in Widersprüche verstrickt?
Dieser Frage geht der Schweizer Wissenschaftsjournalist Florian Fisch in seinem Buch „Wissenschaftlich erwiesen – Gütesiegel oder Etikettenschwindel?“ nach. Auf gut 200 Seiten beleuchtet er die Methodik und Theorie der Wissenschaft. Dabei wird deutlich, dass es zum Wesen der Wissenschaft gehört, ihre immer vorläufigen Erkenntnisse selbst zu hinterfragen, und dass es viele Puzzlesteine braucht, um sich der „Wahrheit“ zu nähern.
Sympathisch ist das Stilmittel, die verschiedenen Fragestellungen mithilfe von Geschichten zu erzählen: Sie reichen von der Getreideforschung in der stalinistischen Sowjetunion über weitreichende Fehleinschätzungen zum Ursprung der Immunschwächekrankheit Aids bis hin zu jüngsten Entscheidungen der Weltgesundheitsorganisation. Dadurch werden wesentliche Aspekte auch für Nicht-Wissenschaftler anschaulich. Aufschlussreiche Interviews mit Wissenschaftlern vertiefen die Themen und Kästen erläutern Fehler, die sich in wissenschaftliche Studien einschleichen können.
Dass nicht alles gut läuft in der Wissenschaft verschweigt der Autor nicht und legt den Finger in die offenen Wunden: Verzerrung von Studienergebnissen durch den Einfluss von Lobbyverbänden, Nicht-Veröffentlichung von negativen Ergebnissen, Schlamperei in der Forschung und bewusste Fälschungen. Auch der Journalismus und die Berichterstattung über wissenschaftliche Themen werden kritisch betrachtet.
Als roter Faden zieht sich die Frage nach dem „wissenschaftlichen Konsens“ durch das Buch. So betont der Autor mehrfach, dass sich die meisten Wissenschaftler in Vielem einig seien und abwegige Außenseitermeinungen deshalb nicht denselben Stellenwert haben dürften.
Für viele wissenschaftliche Fragestellungen ist das sicherlich richtig, aber es gilt nicht absolut. Auch kann das Buch eine wichtige Frage nicht beantworten: Wie lässt sich für Laien wissenschaftlicher Konsens von kollektivem Irrtum unterscheiden? Das ist in der Tat schwierig: Denn die Wissenschaft befindet sich dauernd im Fluss und muss ständig neue Erkenntnisse integrieren. Zudem bietet die Bewertung wissenschaftlicher Daten häufig Interpretationsspielraum, ist wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Kräften ausgesetzt. Auch Wissenschaftler selbst sind nicht gegen Gruppendruck durch andere Experten immun. Das gilt selbstverständlich auch in der Medizin. Als Strategie hilft vermutlich ein wachsamer Blick auf die Methoden und die Frage, welche (finanziellen) Interessen hinter einer Studie stehen. Hinzu kommt die Möglichkeit oder Fähigkeit, Experten die richtigen kritischen Fragen zu stellen und schließlich zuverlässige und unabhängige Quellen zu nutzen.
Ein wichtiger Pluspunkt ist, dass in jedem Kapitel die verwendeten Quellen dokumentiert sind. Gerade bei den medizinischen Themen hätte es sich aber angeboten, auch auf unabhängige Informationsmedien hinzuweisen, die sich direkt an medizinische Laien und Patienten richten. Das Buch ist für alle empfehlenswert, die sich in leicht verständlicher Weise mit Theorie und Methodik der Wissenschaft auseinandersetzen wollen.
Stand: 30. Oktober 2017 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2017 / S.13