Zum Inhalt springen
©Wellcome-Library, London

Von Kühen und Milchmädchen

Wie die Pocken besiegt wurden

Pocken galten jahrhundertelang als der „fürchterlichste Gehilfe des Todes“. Vermutlich fielen ihnen sogar mehrere Weltreiche zum Opfer. Diese Krankheit schonte weder Rang noch Namen: Königinnen und Prinzen starben ebenso daran wie Arme. Heute gelten die Pocken als ausgerottet – und daran haben auch Kühe einen wesentlichen Anteil.

Als Edward Jenner, ein Landarzt in der südenglischen Grafschaft Gloucestershire, 1796 eine wissenschaftliche Arbeit an die Royal Society in London schickte, war er überzeugt, dass er eine wichtige Beobachtung gemacht hatte. Er berichtete von 13 Milchmägden, die erstaunlicherweise nicht die übliche Reaktion zeigten, als man versuchte, sie mit dem damals üblichen Verfahren gegen die Pocken (oder „Blattern“) unempfindlicher zu machen. Jenner hatte herausgefunden, dass sie früher an den sogenannten Kuhpocken erkrankt waren. Diese Erkrankung wird durch ein Virus ausgelöst, das – wie wir heute wissen – mit dem Pockenvirus verwandt ist.

Absichtliche Infektion

Die Behandlung, die die Mägde bekommen sollten, war die „Variolation“ – eine frühe Form der Immunisierung gegen die Pocken (lateinisch: Variola), die in verschiedenen Kulturen bereits seit einigen Jahrhunderten praktiziert wurde. Dabei entnahm man etwas Flüssigkeit aus den Pockenbläschen eines Erkrankten und ritzte sie in die Haut eines gesunden Menschen ein.

Die so Behandelten machten dann meist nur einen milden Verlauf der Pocken durch und starben seltener daran als diejenigen, die sich auf dem natürlichen Weg mit Pocken infiziert hatten. Ungefährlich war die absichtliche Infektion mit dem Pockenerreger trotzdem nicht.1

Tödliche Pocken

Im 18. Jahrhundert fielen vermutlich zehn Prozent aller Verstorbenen den Pocken zum Opfer. Viele Infizierte wurden blind, drei von zehn starben, bei Kindern sogar deutlich mehr. Die Menschen steckten sich mit dem Variola-Virus durch Tröpfchen an oder durch das Einatmen von Staub, der beim Ausschütteln von Decken und Kleidung der Infizierten entstand.2

Etwa zwei Wochen nach der Ansteckung traten die ersten Symptome auf: Fieber, Gliederschmerzen, Bläschen in der Mundhöhle und auf der Zunge. Anschließend bildeten sich Ausschläge im Gesicht, an Armen und Beinen – oft sogar auf der Netzhaut des Auges. Aus dem Ausschlag entwickelten sich erbsengroße, flüssigkeitsgefüllte Pusteln. Nach fünf Tagen trockneten sie aus, und es bildeten sich Krusten, die schließlich abfielen. Die meisten Überlebenden blieben lebenslang von vielen Pockennarben entstellt.

Schutz durch Kuhpocken?

Heute wissen wir, dass das Variola-Virus zahlreiche Verwandte hat, die pockenartige Erkrankungen bei verschiedenen Tieren verursachen. Auch Menschen können sich damit infizieren, so etwa mit den Kuhpocken.

Jenner stellte anhand seiner Beobachtungen die Hypothese auf: Menschen sind immun gegen das Variola-Virus, wenn sie zuvor an Kuhpocken erkrankt waren. In der ländlich geprägten Grafschaft, in der Jenner als Arzt tätig war, steckten sich Milchmägde und Milchknechte beim Melken recht häufig mit Kuhpocken an. Und die sind für Menschen deutlich weniger gefährlich, weil die Krankheit bei ihnen sanfter verläuft. Schon vor Jenner war auch anderen Landärzten aufgefallen, dass Personen nach den durchgemachten Kuhpocken nicht mehr an Pocken erkrankten, zum Beispiel John Fewster im Jahr 1765. Jenner ging aber noch einen Schritt weiter.

Erste Versuche

Als die erwartete Reaktion nach der Variolation bei den zuvor an Kuhpocken erkrankten Milchmägden nicht eintrat, startete er einen Versuch mit dem achtjährigen James Phipps. Jenner infizierte ihn zunächst mit Kuhpocken und nahm einige Zeit später eine Variolation vor. Der Junge zeigte ebenfalls keine Anzeichen einer Pockeninfektion. Dann wiederholte Jenner den Versuch mit seinem elf Monate alten Sohn.

Alle Beobachtungen, Versuche und Schlussfolgerungen hatte Jenner in seinem besagten Bericht an die Royal Society festgehalten. Doch die weigerte sich, die Arbeit zu veröffentlichen. Sie riet ihm dazu, seine „wilden Ideen nicht weiter zu verbreiten, wenn ihm sein guter Ruf etwas wert sei“. Jenner veröffentlichte die Arbeit daraufhin selbst.

Obwohl das Jennnersche Verfahren am Anfang wenig Beachtung fand, setzte es sich schließlich durch. Es wurde Vakzination (Impfung) genannt, basierend auf dem lateinischen Wort vacca, das bedeutet Kuh. Irgendwann im 19. Jahrhundert – wann genau, ist nicht überliefert –, begann man, für die Impfung Vaccinia-Viren zu nutzen, die nicht mit tierischen Viren, sondern mit den menschlichen Pockenviren verwandt sind, aber keine schwerwiegende Erkrankung auslösen. Später wurden Impfstoffe mit abgeschwächten Viren entwickelt, um das Risiko für eine Impferkrankung weiter zu verringern.2

Das Ende der Pocken

Im Jahr 1959 startete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Programm zur Ausrottung der Pocken. Doch weil sich zu wenige Länder daran beteiligten, fehlten Geld, Personal und Impfstoff, sodass es noch in den 1960er-Jahren regelmäßig Pockenausbrüche in vielen Regionen Südamerikas, Afrikas und Asiens gab. Deshalb wurden die Anstrengungen in den frühen 1970er-Jahren verstärkt. Mitte der 1970er-Jahre wurden die letzten Pockeninfektionen beobachtet, 1978 starb zuletzt ein Mensch an Pocken. 1980 erklärte die WHO die Pocken für ausgerottet.2

Weiterhin aktuell

Heute existieren nur noch zwei Proben des Variola-Virus: eine im Hauptquartier der US-amerikanischen Behörde für Seuchenschutz (CDC) in Atlanta und eine in einem staatlichen Forschungszentrum für Virologie und Biotechnologie in Russland.

Die Geschichte der Pocken ist aber noch nicht vorbei: Befürchtet wird, dass heimlich entwendete Pockenviren als Biowaffen eingesetzt werden könnten. Deshalb wird weiter an Pockenimpfstoffen geforscht, und 2018 wurde in den USA auch ein Arzneimittel zu Behandlung der Pocken zugelassen. Ein solches Arzneimittel ist vielleicht nicht nur als Vorsichtsmaßnahme gegen mögliche Terrorangriffe wichtig, sondern auch gegen menschliches Versagen: Im Jahr 2014 wurden in einer Abstellkammer des US-amerikanischen Nationalen Gesundheitsinstituts (NIH) Proben von Pockenviren gefunden – sie stammten vermutlich aus den 1950er-Jahren, und offensichtlich hatte derjenige, der sie in der Kammer abgestellt hatte, sie dort schlicht vergessen.3

PDF-Download

– Gute Pillen – Schlechte Pillen 04/2020 / S.08