Zum Inhalt springen
Frederick Banting und Charles Best ©Library and Archives Canada

Vom sicheren Tod zum Leben mit Diabetes

Wie das Insulin entdeckt wurde

Bis Anfang der 1920er Jahre war die Diagnose Typ-1-Diabetes quasi ein Todesurteil: Es gab keine wirksame Therapie gegen die Form der Zuckerkrankheit, die meistens bei jungen Menschen auftritt. Die Entdeckung des Insulins durch zwei junge kanadische Forscher änderte das grundlegend.

Als der 14-jährige Leonard Thompson im Dezember 1921 ins Allgemeine Krankenhaus im kanadischen Toronto eingeliefert wurde, wog er nur noch 33 Kilo. Er war an Typ-1-Diabetes erkrankt und hatte eigentlich keine Chance, längere Zeit zu überleben.

Hilflose Therapieversuche

450 Kilokalorien pro Tag, mit möglichst wenigen Kohlenhydraten, um den erhöhten Blutzucker zu senken: Mit solchen drastischen Maßnahmen wurden noch Anfang des 20. Jahrhunderts Menschen behandelt, bei denen die Bauchspeicheldrüse kein Insulin mehr produzierte. Zum Vergleich: 450 Kilokalorien sind weniger als ein Viertel dessen, was die heutigen Ernährungsempfehlungen für die Durchschnittsbevölkerung vorsehen.

Diese Behandlung war aber nicht nur erfolglos, sondern verstärkte sogar noch die Folgen der Krankheit: Fehlt Insulin, kann der Körper Kohlenhydrate nicht in die Zellen aufnehmen und folglich auch nicht verwerten. Dadurch steigt der Blutzuckerspiegel, und die Niere scheidet große Mengen Zucker und Flüssigkeit aus. Weil Zucker als „Treibstoff“ fehlt, baut der Körper seine Fettreserven ab. Durch alle diese Vorgänge magerten junge Menschen mit Diabetes damals massiv ab. Die strenge Diät konnte außerdem auch nicht das gefürchtete diabetische Koma verhindern, das durch den hohen Blutzucker und durch die sauren Fett-Abbauprodukte entsteht und damals immer tödlich verlief.

Der erste Patient

Aber Leonard hatte Glück, dass er ausgerechnet in diesem Krankenhaus landete: Denn Frederick Banting und Charles Best forschten in dem an der Klinik angesiedelten Institut des Physiologen John Macleod. Ihr Thema: die Isolierung von Insulin aus der Bauchspeicheldrüse von Schweinen und Rindern.

Bereits seit Längerem war bekannt, dass Stoffe aus bestimmten Teilen der Bauchspeicheldrüse, den sogenannten Langerhans­schen Inseln, mit der Regulierung des Zuckerstoffwechsels zusammenhängen mussten. Denn verschiedene Tierarten, denen man diese Drüse entfernt hatte, entwickelten Diabetes. Einige Tierversuche mit Extrakten aus tierischen Bauchspeicheldrüsen hatten erste vielversprechende Erfolge gezeigt. Wissenschaftler konnten diese Ergebnisse jedoch nicht immer bestätigen, und manchmal zeigten sich auch gravierende Nebenwirkungen.

Banting und Best war 1921 aber ein Durchbruch gelungen: Mit einem neuen Verfahren konnten sie aus den tierischen Bauchspeicheldrüsen einen Extrakt gewinnen und reinigen, mit dem sich bei Tieren der Diabetes zuverlässig bessern ließ. Leonard Thompson war der erste Patient, der im Januar 1922 Injektionen des neu entdeckten Hormons, dem Insulin, bekam. Dank der regelmäßigen Insulininjektionen wurde er immerhin 27 Jahre alt: Ein Alter, auf das die meisten gleichaltrigen Leidensgenossen damals nicht hoffen konnten.1

„Das Insulin gehört nicht mir, es gehört der Welt“

Der Forscher James Collip verbesserte die Reinigung der Extrakte aus den Bauchspeicheldrüsen von Schlachttieren dann weiter. Für die Entdeckung und Isolierung von Insulin wurden Banting und Macleod bereits 1923 mit dem Nobelpreis für Physiologie und Medizin ausgezeichnet, Best und Collip gingen jedoch leer aus.2

Die Erfolge der neuen Therapie sprachen sich rasend schnell herum. Die Nachfrage nach Insulin war enorm, und so musste die Produktion rasch industrialisiert werden. Die Forscher entschlossen sich deshalb bald dazu, das Patent ihres Verfahrens an die junge amerikanische Firma Eli Lilly & Co. zu verkaufen – und zwar für nur einen Dollar pro Team-Mitglied. Die Wissenschaftler waren also nicht durch die Aussicht auf Profit angetrieben. Banting formulierte es so: „Das Insulin gehört nicht mir, es gehört der Welt.“3

Knappe Rohstoffe

Der Vertrag mit Eli Lilly enthielt strenge Auflagen. So durfte die Firma das exklusive Patent nur für ein Jahr halten und musste sich verpflichten, der Universität wesentliche Erkenntnisse ihrer Arbeit mitzuteilen. Parallel zu den kanadischen Forschern hatte auch die deutsche Firma Hoechst an einem Verfahren zur Insulingewinnung gearbeitet und 1923 ein eigenes Insulinpräparat entwickelt.

Die Nachfrage nach Insulin war aber so groß, dass die Hersteller immer mehr Schwierigkeiten hatten, die nötige Menge tierischer Bauchspeicheldrüsen zu besorgen. Die Schlachthäuser in Deutschland konnten nicht genug liefern, man war auf Importe aus dem Ausland angewiesen.2

Die Abhilfe: Gentechnik

Die Rohstoffknappheit war nicht das einzige Problem. Tierisches Insulin unterscheidet sich im Molekül zwar nur geringfügig von menschlichem. Dennoch zeigte sich, dass das Immunsystem mancher Patienten das tierische Hormon nach einer Weile als fremd erkennt und inaktiviert – was für Betroffene bedeutete, dass das Insulin bei ihnen nicht mehr ausreichend wirkte und sie zum Beispiel von Schweine- auf Rinderinsulin wechseln mussten. Deshalb suchte man nach Wegen, das tierisch gewonnene Insulin zu „humanisieren“.

Heutzutage wird Insulin mithilfe von gentechnisch veränderten Mikroorganismen hergestellt. Das resultierende Humaninsulin ist in seiner Struktur nicht von dem im Menschen gebildeten zu unterscheiden. In den 1990er Jahren kamen die sogenannten Insulinanaloga auf den Markt, bei denen die Struktur weiter verändert wurde, sodass sie schneller wirken beziehungsweise die Wirkung länger anhält.3

Studien deuten aber darauf hin, dass sich der Diabetes mit Insulinanaloga nicht besser behandeln lässt als mit Humaninsulin.4

Insulin­versorgung unsicher

War Insulin schon von Anfang an teuer, steigt der Preis heute immer rasanter an. Es gibt Berichte aus den USA, dass Menschen ohne ausreichende Krankenversicherung Insulin rationieren, was in einigen Fällen bereits tödlich endete.5

Die drei Firmen Eli Lilly, Novo Nordisk und Sanofi kontrollieren 96 Prozent des Weltmarkts. Einen Preiswettbewerb gibt es deshalb nicht, denn die komplexe Produktion erschwert den Einstieg von Wettbewerbern. Das profitorientierte Geschäftsgebaren der Hersteller gefährdet somit für über die Hälfte der 100 Millionen Menschen mit Diabetes weltweit die Versorgung mit Insulin. Das hat besonders für Menschen in Schwellenländern dramatische Konsequenzen, weil die Gesundheitsbudgets dieser Staaten die hohen Insulinpreise oft nicht finanzieren können. Faktisch sind sie deshalb aus der Insulinversorgung ausgeschlossen, mit tödlichen Folgen.6 Dieses Problem hat inzwischen einen eigenen Namen: Insulindilemma.

PDF-Download

– Gute Pillen – Schlechte Pillen 02/2020 / S.08