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© Martin Barraud/ iStockphoto.com

Noch Pubertät oder schon Borderline?

Wenn das Verhalten aus der Rolle fällt

Wer kennt nicht die Klagen von Eltern, deren Kinder in die Pubertät kommen – und ihre Verunsicherung angesichts oft beunruhigender neuer Verhaltensweisen? Was ist „normal“? Müssen wir mit unserer Tochter, unserem Sohn durch diese Phase „einfach durch“ oder müssen wir uns Sorgen machen?

„Gefühlschaos“ zwischen Weltschmerz und Euphorie, zwischen Selbstzweifel und Selbstüberschätzung, lautstarke Streitereien um nichts – mit Türenknallen oder beleidigtem Rückzug, hier aggressives „Lass mich in Ruhe“, dort kindliches Anlehnungsbedürfnis und meist „keinen Plan“ – weder von sich noch von anderen oder davon, wie es weiter gehen soll! Hilfe! Mein Kind ist in der Pubertät! So klingen viele Eltern und klagen vielleicht über Leistungsabfall, unüberlegte sexuelle Erfahrungen, Alkohol- oder gar Drogenkonsum, riskante Experimente aller Art und „Kontakte“ mit der Polizei …

Und jetzt? Eltern pubertierender Kinder wird viel abverlangt: Verständnis und Nachsicht, aber auch Grenzsetzung, klare Regeln und Konsequenz, und vor allem Gelassenheit – Gelassenheit angesichts der Turbulenzen, in die Kinder und Eltern in den Jahren der Pubertät geraten können. Zu Recht?

Adoleszenz – Zeit des Umbaus

Die Pubertät, oder besser die Zeit der Adoleszenz – denn Erwachsenwerden ist ja mehr als biologisches Reifen, und es dauert auch um einiges länger – ist eine Zeit der körperlichen, psychischen und sozialen Um- und Neustrukturierung. Auch die Hardware des Gehirns wird noch einmal zur Großbaustelle, wobei einzelne neurobiologische Reifeprozesse in ganz unterschiedlichem Tempo stattfinden. Der präfrontale Kortex, also die Gehirnregion, die für die Kontrolle von Impulsen, für Planung und zielgerichtetes Handeln zuständig ist, entwickelt sich am langsamsten. Besonders in emotional bedeutsamen Situationen geraten deshalb Handlungskontrolle, Problemlösung und Risikoabschätzung ins Hintertreffen – ein möglicher Grund für die emotionalen Turbulenzen und Krisen, in die Jugendliche geraten können. Die meisten bewältigen diese Phase jedoch ohne krisenhafte Zuspitzung. Sie werden erwachsen und ihre Eltern tun gut daran, die Ruhe zu bewahren, zu der ihr heranwachsender Sohn, ihre heranwachsende Tochter derzeit nicht in der Lage ist.

Aber: Die Adoleszenz ist auch eine Lebenszeit, in der immer häufiger psychische Störungen diagnostiziert werden. Sie gilt als Risikophase nicht nur für depressive Störungen, Angststörungen und Essstörungen, sondern auch für Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Diese scheinen besonders mit der Adoleszenz verknüpft: In Deutschland leben etwa 5% der 15-Jährigen mit dieser Diagnose, während im Alter von 20 Jahren nur noch rund 4%, und unter den 45 Jährigen nur noch weniger als 1% unter Borderline-typischen Symptomen leiden.

Was bedeutet Borderline?

Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) haben große Probleme, ihre Emotionen und Impulse zu steuern und leiden unter ihren extremen Gefühlsschwankungen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nennt die Erkrankung deshalb auch „emotional-instabile Persönlichkeitsstörung“.1 Kommen zu dieser Schwierigkeit noch Unsicherheiten im Selbstbild, der Selbstwahrnehmung und eine Störung des Selbstwertgefühls dazu, spricht man von einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ.

Stimmungsschwankungen, Wutanfälle und impulsives Verhalten sind meist die ersten Anzeichen. Sie werden oft als „typisch pubertär“ interpretiert. Die zugrunde liegende innere Anspannung, die überwältigenden Gefühle wie Wut und Verzweiflung, großer Einsamkeit und Leere sieht man den betroffenen Jugendlichen nicht an. Deshalb reagieren Eltern und Lehrer lange entweder mit „pädagogischen“ (oft strafenden) Maßnahmen, die fehlschlagen müssen, oder einer vermeintlich nachsichtigen, im Grunde genommen aber vernachlässigenden Haltung, die die Jugendlichen mit ihrem Leiden allein lässt. Meistens sind es erst spektakuläre Symptome, die Eltern, Lehrer, Freunde aufschrecken: Selbstverletzungen (zum Beispiel „Ritzen“), Suiziddrohungen oder gar Suizidversuche, Drogenprobleme, Essstörungen, aber auch die „Sucht“ nach engen Beziehungen oder riskanten „Abenteuern“. Das sind oft misslingende Versuche, mit dem inneren Druck fertig zu werden.

Wo ist die Grenze?

Klare Grenzen zu ziehen zwischen „normalem“ adoleszentem Fühlen und Verhalten, einer vorübergehenden Krise und einer BPS im Sinne einer psychischen Störung ist schwierig. Es gibt Faustregeln: „Auffälliges Verhal­ten“ ist dann vielleicht noch „typisch jugendlich“, solange es auf kurze Episoden und einzelne Lebensbereiche (Familie, Schule, Freunde) beschränkt bleibt. An die Möglichkeit einer BPS müssen Eltern jedoch denken, wenn ganz verschiedene der oben beschriebenen Symptome zeitgleich über viele Monate anhaltend in mehreren Kontexten auftreten. Borderline-typisch ist, dass die einzelnen Symptome durchaus wechseln können oder in verschiedenen Kombinatio­nen vorkommen.

BPS – und dann?

Betroffene Jugendliche und ihre Familien brauchen Hilfsangebote, die auf sie – den Patienten und seine Familie als Ganzes –, zugeschnitten sind. Berücksichtigt werden müssen also die aktuellen Symptome ebenso wie die jeweilige Lebenssituation. Anlaufstellen können deshalb sein: Kinder- und Jugendärzte, Hausärzte, chirurgische oder psychiatrische Notfallambulanzen, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Kinder- und Jugendpsychiater sowie Kinder- und Jugendpsychiatrische stationäre Einrichtungen, oft auch Jugendämter, sozialpsychiatrische Dienste, Familienberatungsstellen, eine sozialpädagogische Familienhilfe und (therapeutische) Wohngruppen der Jugendhilfe.

Grundsätzlich gilt: Betroffene brauchen eine langfristige Psychotherapie, wobei sich Psychotherapieverfahren, die auf die Probleme und Besonderheiten der BPS zugeschnitten sind, als besonders wirksam erwiesen haben.2 Eine spezielle medikamentöse Therapie der BPS gibt es nicht. Einzelne Symptome wie zum Beispiel Depressivität, Impulsivität, Aggressivität, Zwänge, Schlafstörungen können aber vorübergehend (!) durch eine symptomorientierte Pharmakotherapie gelindert werden, wobei die Verordnung von Benzodiazepinen wegen der Suizid- und Abhängigkeitsgefahr auf jeden Fall vermieden werden muss.3

Manche Jugendliche profitieren von einem längeren stationären Aufenthalt in einer kinder-und jugendpsychiatrischen Klinik als Vorbereitung der ambulanten Psychotherapie. Wichtig ist, dass in diesem Fall auch in der Klinik eine störungsspezifische Behandlung möglich ist. In suizidalen Krisen hilft ein kurzer, auf wenige Tage beschränkter „Rückzug“ in den schützenden Raum einer Klinik, ohne dass die ambulante Psychotherapie unterbrochen werden muss. Ganz wichtig zu wissen: Die Gefahr ist groß, dass die Jugendlichen aufgrund ihrer Erkrankung wichtige Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz (Schulabschluss, Berufsausbildung, Partnerwahl) nicht oder nur ungenügend zu bewältigen in der Lage sind. Deshalb brauchen sie Eltern, Lehrer, Ausbilder, die sie auf dem Weg durch die turbulente Phase begleiten und ihnen dann, wenn das Schlimmste überstanden ist, Möglichkeiten bieten, sozial „nachzureifen“.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 03/2020 / S.04