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Nachgefragt: Warum wir uns zu viel um Ernährung sorgen

Jeder möchte gesund sein und lange leben. Eine Möglichkeit scheint zu sein, sich vorteilhaft zu ernähren. Aber was wissen wir eigentlich über gesunde Ernährung und wie sicher ist dieses Wissen? Dazu haben wir John Ioannidis befragt, der seit Langem erforscht, wie Studien angelegt und durchgeführt werden und was man dabei alles falsch machen kann.

GPSP: Wie kommt es, dass ich an einem Tag in der Zeitung lese, Kaffee sei gesund und verlängere mein Leben und am nächsten Tag steht in derselben Zeitung das Gegenteil?

Es gibt mehrere Gründe dafür, warum Studien zu gegenteiligen Aussagen kommen. Das Grundproblem ist, dass die meisten Ergebnisse aus Beobachtungsstudien stammen und das bedeutet, dass es sich nicht um experimentelle, randomisierte Studien handelt. Beobachtungstudien sind anfällig für Verzerrungen und Störfaktoren, sogenannte Confounder. Die sind sehr schwer zu kontrollieren. So erhält man leicht Ergebnisse, die in die eine oder andere Richtung gehen, je nachdem, wie man sich entscheidet, die Studie zu gestalten und auszuwerten.

Was genau sind eigentlich Con­founder?

Confounding bedeutet, es gibt diverse Faktoren, die Ergebnisse beeinflussen können: Eigentlich wollen wir wissen, ob ein bestimmtes Nahrungsmittel oder Ernährungsmuster das Leben verlängert oder die Gefahr verringert, einen Herzinfarkt, Krebs oder sonst etwas Unvorteilhaftes zu erleiden. Allerdings beeinflussen die Lebensumstände, wie viel wir von bestimmten Nahrungsmitteln essen oder welches Ernährungsmuster wir wählen. Und gleichzeitig beeinflussen unsere Lebensumstände auch, ob wir eine Krankheit bekommen.

Ernährung ist also eng mit vielen Dingen verbunden, die wir im Leben tun.

Ja, Menschen sind mehr Faktoren ausgesetzt als nur den speziellen Nahrungsmitteln oder Nährstoffen, die wir als Wissenschaftler unter die Lupe nehmen. Und Lebensmittel enthalten gleichzeitig viele verschiedene Nährstoffe. Wenn wir also einen statistischen Zusammenhang zwischen einem bestimmten Nährstoff und einer Krankheit oder gar Todesfällen sehen, wissen wir nicht wirklich, ob das an dem einen Nährstoff liegt, den wir untersuchen, oder an einem anderen Nährstoff oder sogar an einer ganz anderen Lebensstilkomponente, wie Bewegung, Rauchen, Schlaf und so weiter.

Aber es gibt doch ähnliche Probleme auch in anderen Forschungsbereichen. Was macht die Ernährung so besonders?

Da sind solche Probleme schwieriger zu kontrollieren als in fast jedem anderen Bereich, in dem wir Beobachtungsforschung betreiben, weil das Ernährungssystem erstaunlich komplex ist. Es gibt mehr als 250.000 verschiedene Lebensmittel. Scheinbar ähnliche Lebensmittel unterscheiden sich zudem in der chemischen Zusammensetzung. Das bedeutet, dass die Informationen, die wir in unseren Studien erhalten, sehr komplex sind und dass wir bei der Auswertung auswählen müssen, welche Nahrungsbestandteile und welche anderen Faktoren berücksichtigt werden sollen. Je nachdem, wie diese Entscheidung ausfällt, können wir zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen und sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen. Ich kann mit den gleichen Daten aus der gleichen Studie ein Ergebnis erhalten wie „Kaffee erhöht das Todesrisiko“ oder „Kaffee verringert das Todesrisiko“, nur durch Drehen an diesen Stellschrauben.

Welche Schwierigkeiten gibt es beim Sammeln der Daten?

Die meisten Studien verwenden Fragebögen. Die Teilnehmer sollen berichten, was sie gegessen haben. Und das führt offensichtlich zu vielen Fehlern. Es ist generell schwierig, sich zu merken, was man gegessen hat, und noch schwieriger ist es, sich so akkurat daran zu erinnern, wie es für Forschungszwecke nötig ist. Noch ungenauer wird es, wenn man die Menschen nur zu Beginn einer Studie fragt, was sie konsumieren und die Ergebnisse erst viele Jahre später auswertet.

Warum?

Ess- und Trinkgewohnheiten ändern sich mit der Zeit. Und die Ergebnisse, die man in einer solchen Studie dann erhält, haben mit den ursprünglichen Gewohnheiten vielleicht gar nichts mehr zu tun.

Es gibt doch auch noch ein anderes Problem: Welche Rolle spielen Interessenkonflikte?

Wenn Sie ein solches System haben, das sehr schwierig und kom­plex zu analysieren ist, dann haben Sie einen Haufen Schwierigkeiten. Kommt dann noch irgendein Interessenkonflikt oder eine andere Art von Parteilichkeit oder Glaubensvorstellung hinzu, überrascht es nicht, wenn ­Studien zu dem Schluss kommen, den die Forscher bereits vor Studienbeginn im Sinn hatten. Einige Forschungsarbeiten werden von großen Lebensmittelkonzernen unterstützt, also von Unternehmen, die sehr starke finanzielle Interessen an einem bestimmten Ergebnis haben. Das fördert positive Ergebnisse für die Lebensmittel, die die Unternehmen herstellen, und als gesund bewerben.

Spielen nur finanzielle Interessen eine Rolle?

Es gibt viele Forscher mit guten Absichten, die sehr starke Überzeugungen haben. Sie wollen Leben retten, haben aber eine sehr feste Vorstellung davon, wie das auf der Grundlage ihrer kulturellen, religiösen, persönlichen oder familiären Werte zu tun ist. So finden wir oft Studien von Leuten, die gleichzeitig Aktivisten sind. Sie treten in der Öffentlichkeit auf mit der festen Überzeugung, dass eine bestimmte Art der Ernährung gut ist und Verbreitung finden muss. So kann man selbst mit guten Absichten Dinge falsch machen.

Ist es unmöglich, verlässliche Erkenntnisse über positive und negative Auswirkungen von Ernährung zu gewinnen?

Wir sollten kein allzu düsteres Bild zeichnen. Denn es gibt durchaus Wege, wie wir zu zuverlässigeren Belegen kommen als bisher. Dazu brauchen wir randomisierte Studien, das heißt, wir weisen Menschen nach dem Zufallsprinzip bestimmten Ernährungsmustern zu. Ergebnisse solcher Studien sind in der Regel zuverlässiger. Aber sie sind schwer durchzuführen, denn man muss die Teilnehmenden davon überzeugen, sich lange Zeit fest an ein bestimmtes Ernährungsmuster zu halten.

Manchmal kommt eine randomisierte Studie zu einem völlig anderen Ergebnis als früher durchgeführte Beobachtungsstudien zum gleichen Thema. Und ich glaube der randomisierten Studie in diesem Fall mehr. Aus Beobachtungsstudien wurde zum Beispiel geschlussfolgert, dass ein einzelnes Antioxidans, Beta-Carotin, sehr stark vor Tod und Krebs schützt. Aber randomisierte Studien fanden nicht den geringsten Nutzen und zeigten, dass die früher gefundenen Ergebnisse nicht ursächlich mit Beta-Carotin zu tun haben können.

Auch randomisierte Studien können natürlich problematisch sein, besonders wenn sie zu klein sind. Darüber hinaus gibt es immer noch viele verschiedene Möglichkeiten, die Daten verzerrt zu analysieren, um das gewünschte Ergebnis zu erhalten.

Gibt es einen Weg, die Ernährungsforschung zu verbessern?

Die Genetik hat eine Phase durchlaufen, die der heutigen Situation in der Ernährungsforschung sehr ähnlich ist. Lange wurden kleine Studien veröffentlicht, die sich mit einem Gen nach dem anderen beschäftigen, so wie auch eine Studie nach der anderen zu einem bestimmten Nährstoff oder einem Ernährungsmuster gemacht wird. Und die Genforscher hatten die gleichen Probleme. Dann entschieden sie sich, mit genomweiten Analysen fortzufahren, bei denen man sich das gesamte Genom ansieht. Auch die Messgenauigkeit hat sich dramatisch verbessert.

Die Ernährungsforschung sollte sich ein Beispiel daran nehmen: Studien durchführen, die das Gesamtbild messen, nicht einzelne Nährstoffe oder Schnappschüsse einzelner Ernährungsmuster. Und bessere, neue Messmethoden nutzen, zum Beispiel mit Smartphones erfassen, was die Teilnehmer essen.

Wo kann ich als Verbraucherin oder Verbraucher hochwertige Informationen über Ernährung erhalten?

Nach all diesen hunderttausenden von Studien kann ich Ihnen nicht eine einzige Quelle wirklich empfehlen, die zuverlässig und evidenzbasiert ist. Es ist schade, dass die vielen Websites, die über Ernährung schreiben, auf so großes Interesse stoßen. Aber mir fällt keine einzige Website ein, die sich evidenzbasierten Ansätzen in der Ernährung verpflichtet hat. Das gilt auch für die Ernährungsleitlinien. Als Verbraucher sollte man diese Leitlinien mit Zurückhaltung lesen, denn viele von ihnen basieren auf der fehlerhaften Forschung, die wir diskutiert haben.

Was sollte ich beachten, wenn ich über eine neue Ernährungsstudie in den Medien lese?

Man muss jedes Mal fragen, worauf die Ergebnisse basieren. Sind sie aus einer randomisierten Studie oder besser noch aus mehreren randomisierten Studien? Oder stammen sie aus einer Beobachtungsstudie? Was haben die Forscher getan, um all diese Fehler, die wir besprochen haben, zu vermeiden? Entspricht das Ergebnis dem früherer Studien, oder steht es im Widerspruch dazu? Wer hat diese Studie durchgeführt? Gibt es finanzielle Abhängigkeiten oder andere Interessenkonflikte?

Die meisten Studien erfüllen diese Aspekte nicht. Was wissen wir tatsächlich über Ernährung und Gesundheit?

Es gibt einige grundlegende, gut belegte Erkenntnisse, die sehr konsistent und keineswegs umstritten sind. Immer wieder bestätigt sich, dass Fettleibigkeit mit vielen Erkrankungen oder auch verkürzter Lebenserwartung verbunden ist. Viel Alkohol trinken ist extrem schädlich und verursacht zahlreiche Krankheiten. Bei niedrigem Konsum haben wir noch immer gewisse Unsicherheiten: Ist etwa ein halbes oder ganzes Glas Wein pro Tag bereits schädlich? Außerdem gibt es für manche Ernährungsgewohnheiten oder -muster schwache Hinweise auf positive Effekte, manchmal sogar aus randomisierten Studien. Ein Beispiel ist die sogenannte mediterrane Ernährung. Allerdings gibt es inzwischen Zweifel an den Ergebnissen einer kürzlich veröffentlichten großen Studie dazu. In jedem Fall sind die Auswirkungen eines bestimmten Ernährungsmusters sehr wahrscheinlich gering.

Warum ist das so?

Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass die Entscheidung für oder gegen den Verzehr eines ganz bestimmten Lebensmittels zusätzliche Lebensjahre beschert. Möglicherweise verlängert die Summe aller Entscheidungen – dutzende oder gar tausende zusammengenommen – unser Überleben um drei oder vier Jahre. Entscheidungen für oder gegen einzelne Nahrungsmittel werden sich wahrscheinlich deutlich weniger auswirken. Solange Sie also nicht zu viel und zugleich abwechslungsreich essen, brauchen Sie sich wohl nicht allzu große Sorgen zu machen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Beobachtungsstudien
GPSP 2/2019, S. 4

Randomisierte Studien
GPSP 2/2019, S. 24

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 05/2019 / S.19