Notfall oder nicht?
Die richtige Anlaufstelle finden
Wer in die Notaufnahme geht, weil er seit gestern ein bisschen wegen seiner Erkältung hustet, aber sonst keine besonderen Beschwerden hat, muss dort wahrscheinlich nicht nur lange warten, sondern blockiert auch Kapazitäten für echte Notfälle. Allerdings ist es nicht immer leicht, bei akuten Gesundheitsproblemen die richtige Anlaufstelle zu finden. Darüber haben wir mit der Ärztin und Wissenschaftlerin Dagmar Lühmann gesprochen.
GPSP: In den letzten Monaten beklagen Ärztinnen und Ärzte immer häufiger, dass Menschen mit banalen Erkrankungen in die Notaufnahme einer Klinik kommen. Sie selbst waren an einer Studie zu diesem Problem beteiligt und haben Patienten in fünf Notfallambulanzen von norddeutschen Krankenhäusern befragt.1 Was kam dabei heraus?
Dagmar Lühmann: Vorweg: Wir haben nur Patienten mit mittlerem oder niedrigem Behandlungsbedarf befragt, die durchaus anderweitig ärztliche Hilfe bekommen hätten.
Und, war das den Befragten klar?
Etwas mehr als die Hälfte war der Ansicht, dass ihr Gesundheitsproblem gar nicht so dringlich ist.
Warum sind sie denn ohne Not in die Notaufnahme gekommen?
Rund die Hälfte aller Patienten gab als Grund starke Beschwerden oder Schmerzen an. Oft haben sie Probleme an Muskeln, Knochen oder Gelenken oder Hautwunden genannt.
Waren das akute Probleme?
Nur bei rund einem Drittel waren die Beschwerden innerhalb der letzten sechs Stunden aufgetreten. Einige wären zum Hausarzt gegangen, konnten das aus beruflichen Gründen aber nicht während der Praxisöffnungszeit schaffen. Jeder dritte Befragte hatte die Beschwerden schon seit drei Tagen oder noch länger.
Die meisten von ihnen hätten wohl in diesem Zeitraum eine geöffnete Praxis finden können. Und wenn nicht?
Da gibt es den kassenärztlichen Notdienst. Der ist in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich organisiert, aber in der Regel hat man Bereitschafts- oder Notfallpraxen. Unter der bundeseinheitlichen Telefonnummer 116 117 kann man erfragen, wo der zuständige Arzt oder die Ärztin erreichbar ist. Für Menschen, die nicht in die Praxis kommen können, gibt es sogar einen fahrenden Bereitschaftsdienst.
Bei nicht so dringlichen Beschwerden sollte man sich also an den kassenärztlichen Notdienst wenden?
Ja. Unserer Studie hat aber leider ergeben, dass etwa 2 von 3 Befragten die Notfallpraxen in der Nähe oder die Telefonnummer 116 117 nicht kennen. Aber wichtig zu wissen: Diese Nummer ist bisher nur zu Zeiten erreichbar, in denen die Praxen üblicherweise geschlossen sind, also etwa mittwoch- oder freitagnachmittags, an Wochenenden oder Feiertagen rund um die Uhr. Außerdem kann es regional auch noch Besonderheiten geben.
Es gibt ja außerdem die Telefonnummer 112.
Ja, und die kennt fast jeder. Man soll sie aber nur bei einem schweren und sofort behandlungsbedürftigen Notfall wählen. Also zum Beispiel bei einem heftigen Autounfall, schweren Verletzungen im Beruf oder im Haushalt, bei Bewusstlosigkeit oder wenn Anzeichen für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall bestehen. Mit der 112 erreicht man die Rettungsleitstelle, die dann ein mobiles Team alarmiert. Je nach Dringlichkeit kommt gleich ein Notarzt mit, ansonsten fährt erst einmal der Rettungswagen mit Rettungsassistenten los.
Und wofür ist die Notaufnahme im Krankenhaus tatsächlich zuständig?
Sie ist für dringliche, akute Notfälle gedacht – also vorrangig für Patienten, die stationär aufgenommen werden müssen. Je nach Region ist man hier auch richtig mit Knochenbrüchen oder blutenden Wunden, die genäht werden müssen – etwa wenn es keinen niedergelassenen Chirurgen oder Unfallchirurgen gibt oder die nicht erreichbar sind.
Was ist das Problem, wenn man mit leichteren Beschwerden in die Notaufnahme kommt?
Zuerst einmal kann das extreme Wartezeiten für einen selbst verursachen. Die Notaufnahmen sortieren nach Dringlichkeit. Wer mit einem nicht-dringlichen Problem kommt, muss unter Umständen mehrere Stunden warten.
Überfüllte Notaufnahmen können möglicherweise dazu führen, dass mehr Menschen sterben.
Ja, es gibt solche Untersuchungen aus den USA. Demnach bekamen zum Beispiel einige Patienten durch die langen Wartezeiten zu spät notwendige Antibiotika. Für Deutschland ist das bisher nicht systematisch untersucht. Ich fürchte allerdings, dass es hier ähnlich aussehen könnte.
Was raten Sie, wenn man außerhalb der Sprechzeiten eine spezielle fachärztliche Hilfe braucht oder eine Zahnärztin?
Bei Fachspezialisten ist die Bereitschaft regional unterschiedlich geregelt, das gilt auch für die Zahnärzte. Da hilft oft ein Blick in die lokale Tagespresse oder ins Internet. In vielen Praxen läuft außerdem in der Regel eine Bandansage mit der Nummer des jeweiligen Notdienstes. Apotheken wissen ebenfalls Bescheid. Für die zahnärztlichen Notdienste stehen in einem Internet-Portal die jeweiligen Telefonnummern (siehe Kasten).
Manchmal gibt es Gesundheitsprobleme, die nicht besonders dringlich sind, zum Beispiel wiederkehrende Rückenschmerzen, die ich aber abklären lassen will. Dafür möchte ich keinen Urlaub nehmen und mich auch nicht deswegen krankschreiben lassen. Aber wenn ich erst um 19 Uhr von der Arbeit komme, hat natürlich keine Praxis mehr auf.
Ja, das stimmt. Hier besteht möglicherweise Reformbedarf. Wer als niedergelassener Arzt oder Ärztin eine Kassenzulassung hat, muss Sprechstundenzeiten von mindestens 20 Stunden in der Woche anbieten. Wie aber diese Stunden verteilt sind und wie sie liegen, ist jedem Einzelnen überlassen. Das ist vielleicht nicht überall so, wie Patienten es sich wünschen. Andererseits muss jeder Patient auch seine eigenen Prioritäten hinterfragen, also ob ihm eine zeitnahe Diagnose und Behandlung nicht doch ein oder zwei Stunden wert sind. Stattdessen abends oder nachts in die Notaufnahme zu gehen, ist jedenfalls keine gute Alternative.
Gibt es Überlegungen, wie sich das Problem der überfüllten Notaufnahmen lösen lässt?
Ja, es gibt einige Reformvorschläge. Zum Beispiel soll die 116 117 künftig rund um die Uhr besetzt sein. In einigen Regionen wird über sogenannte Portalpraxen nachgedacht, die sich neben den Klinik-Notaufnahmen befinden und nicht so dringliche Notfälle versorgen. Diese Portalpraxen sollen rund um die Uhr arbeiten, so dass man von den üblichen Praxisöffnungszeiten ein bisschen weg kommt. Außerdem bestehen Überlegungen, die Notfallambulanzen von Krankenhäusern weiter auszubauen, so dass sie ambulante Aufgaben mit übernehmen können. Dabei müssen aber noch einige berufspolitische und finanzielle Aspekte geklärt werden, etwa was das Honorar für ambulante Versorgung im Krankenhaus angeht.
Was spielt noch eine Rolle?
Dass es bisher keine zentrale Stelle gibt, die Patienten Auskünfte gibt und sie an die richtige Stelle schickt, ist ein organisatorisches Problem. Und viele Menschen haben falsche Vorstellungen oder sind nicht gut informiert: Manche denken, dass sie im Krankenhaus eine bessere Versorgung erhalten, oder sie haben zuvor bei einem Krankenhausaufenthalt gute Erfahrungen gemacht. Deshalb kommen sie dann mit leichteren Erkrankungen in die Notaufnahme, obwohl der Hausarzt oder der kassenärztliche Notdienst das genauso gut hätte behandeln können. Vermutlich muss man an vielen Stellschrauben gleichzeitig drehen, um das Problem zu lösen.
Was kann jeder selbst tun, um die richtige Anlaufstelle zu finden?
Es wäre gut, sich vorab zu informieren, wie in der eigenen Region die Notfallversorgung organisiert ist. Wenn man sich die richtigen Telefonnummern griffbereit notiert, ist man im Falle eines Falles vorbereitet.
Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch!
Stand: 8. März 2018 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 02/2018 / S.19
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