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Demenz – mehr als Vergesslichkeit

In Deutschland leben über eine Million demenzkranke Menschen. Wahrscheinlich werden es in 20 Jahren doppelt so viele sein. Grund ist die steigende Lebenserwartung, denn schwere Gedächtnisstörungen und damit verbundene Verhaltensveränderungen sind eine Erkrankung des hohen Alters. Das Risiko steigt mit den Jahren stark an: Mit über 80 leidet fast jeder Dritte an einer Demenzerkrankung.

GPSP: Wenn man Mitte Fünfzig feststellt, dass einem der Name des hervorragenden Schauspielers im letzten Tatort partout nicht einfällt oder das gute Hotel vom letzten Urlaub nicht abrufbar ist, fragt man sich leicht: Sind das jetzt die ersten Zeichen von Alzheimer?

Niklewski: Ja, das geht offenbar vielen so. Was zum Teil daran liegt, dass in den Medien oft über Demenz­erkrankungen, vor allem unter dem Schlagwort Alzheimer, berichtet wird. Aber mit Mitte Fünfzig hat es in aller Regel andere Gründe, wenn mal ein Begriff blockiert ist.

Welche sind das?

Fast jeder macht die Erfahrung, dass unser Gedächtnis sehr stressanfällig ist. Gerade wenn man anderen etwas berichten will, fällt einem der Schlüsselbegriff nicht ein. Das geht auch Zwanzigjährigen in Prüfungen manchmal so. Black-out.

Also locker bleiben.

So ist es. Man sollte jenseits der 50 nicht zu sehr darauf achten, wenn man hin und wieder etwas nicht sofort parat hat oder bestimmte Unterlagen nicht sofort findet. Im übrigen ist es normal, dass das Gedächtnis etwas nachlässt. Es altert, wie alle anderen Organe und Körperfunktionen auch. Und jeder sollte sich fragen, ob er bestimmte Merkprobleme nicht schon immer hatte. Der eine behält Straßennamen besonders schlecht, der andere kann sich Gesichter nicht merken, für einen dritten ist es eine Qual, sich an Personennamen zu erinnern. Aber wenn man auffällig oft Erinnerungslücken hat, das Problem schon länger besteht und sich verstärkt, dann sollte man unbedingt einen Arzt konsultieren.

Was kann der denn machen? Demenzerkrankungen lassen sich doch nicht heilen.

Das ist richtig, aber hinter kognitiven Störungen verbirgt sich gerade bei älteren Menschen nicht selten eine unerkannte Depression, die behandelt werden sollte.1 Man erkennt sie daran, dass die Gedächtnisstörungen nicht schleichend zunehmen, sondern rasch stärker werden. Und ebenfalls typisch ist, dass der Betroffene sie selbst sehr stark wahrnimmt und viel über diese Beschwerden klagt.

… wenn es keine Depression ist?

Manche Probleme von Demenzkranken können wir durch Arzneimittel erträglicher machen und etwa die Angst vor der Zukunft mit psychotherapeutischen Verfahren lindern. Vor allem ist es wichtig festzustellen, ob es sich tatsächlich um eine Demenz handelt. Jeder fürchtet sich vor dieser Diagnose, aber sie ist andererseits auch eine Entlastung. Denn oft quälen sich Betroffene schon lange damit, dass sie ihre Erinnerungslücken überspielen müssen. Das ist sehr anstrengend und funktioniert irgendwann nicht mehr.2

Was passiert, wenn alles für eine Demenzerkrankung spricht?

Dann sollte man einen Experten oder eine Gedächtnissprechstunde aufsuchen.3 Bei der häufigen Alzheimer-Demenz fehlen im Gehirn durch den Untergang von Nervenzellen wichtige Botenstoffe. Es kann sich aber auch um Durchblutungsstörungen („vaskuläre Demenz“) handeln.

Die Werbung verspricht, dass man Durchblutungsprobleme mit Mitteln aus dem Reformhaus, der Bioecke im Supermarkt oder aus der Apotheke beheben kann.

Das ist schlicht Blödsinn. Wenn das so wäre, gäbe es zuverlässige wissenschaftliche Studien dazu. Und weniger demenzkranke Menschen.

Was kann man denn tun?

Bei Durchblutungsstörungen können kleinere, manchmal unbemerkt verlaufene Schlaganfälle die Ursache sein. Und dann muss man möglichst verhindern, dass es zu weiteren kommt, die das Gehirn noch mehr schädigen könnten. Bei einer Alzheimer-Demenz versuchen wir den Verlauf der Erkrankung mit Medikamenten zu bremsen. Wirklich zufrieden bin ich mit denen allerdings noch nicht. Denn der Erkrankungsverlauf lässt sich bisher nicht stoppen und umkehren schon gar nicht.

Demenzkranke haben ja nicht nur Gedächtnisstörungen, auch das Verhalten ändert sich mit der Zeit. Es entwickeln sich wahnhafte Vorstellungen. Weil etwas nicht auffindbar ist, vermutet der Betroffene, dass der eigene Sohn es gestohlen oder ein Fremder die Wohnung durchsucht hat.

Solche und schlimmere Wahnvorstellungen können sich entwickeln und zu Streit oder Aggressionen gegen Familienmitglieder und alte Freunde führen. Wir versuchen diese Verhaltensveränderungen mit Neuroleptika zu behandeln. Sie müssen bei älteren Menschen jedoch gezielt und sehr vorsichtig dosiert werden, da die Nebenwirkungen erheblich sein können. Aber wir haben nichts Besseres.4

Wer an einer Demenz erkrankt, fürchtet um seine Selbstkontrolle und das Stigma. Man wird ja oft als schusselig, dumm, nicht zurechnungsfähig wahrgenommen und so behandelt.

In der Tat verändert sich mit der Zeit die gesamte Persönlichkeit und es ist wichtig, dass sich die Angehörigen darüber informieren, wie sie einem Demenzkranken helfen können.5 Ganz wichtig ist zu lernen, sonderbarem Verhalten mit einer Form von emotional positiver Gelassenheit zu begegnen: Schimpfen Sie bitte nicht mit dem Kranken, weil er nachts durch die Wohnung gewandert ist oder Dinge sucht, die er selbst versteckt hat. Unterstellen Sie nicht, dass er etwas absichtlich verlegt oder vergisst, um Sie zu ärgern. Das tut er nicht. Auch ein schwer Demenzkranker spürt, ob man ihm mit Wertschätzung begegnet oder nicht.

Welche Punkte sollten Angehörige noch bedenken?

1. Bemühen Sie sich um professionelle Hilfe, ein Demenzkranker ist anstrengend. 2. Es ist sinnlos mit stupidem Gedächtnistraining gegen die Erkrankung vorzugehen und deprimiert den Patienten. 3. Alles, was dem Alltag eine Struktur gibt, ist hilfreich. 4. Nützlich ist ein geselliges Üben von Gedächtnisfunktionen, etwa durch Gesellschaftsspiele, Singen, Tanzen oder alle möglichen Bewegungsspiele. Das Training sollte Spaß machen.

Und was kann jeder selbst tun, um einer Demenzerkrankung aus dem Wege zu gehen?

Rauchen und Übergewicht, Erkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes mellitus und wahrscheinlich auch Fettstoffwechselstörungen erhöhen das Risiko für Durchblutungsstörungen. Für einen möglichst langen Erhalt unserer Wahrnehmungs- und Denkfunktionen müssen wir unser Gehirn auf Trab halten. Es gilt das Motto: „Use it, or loose it.“ – Gebrauch es, oder verlier es.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 05/2008 / S.12