Mit kriminalistischem Spürsinn gegen die Cholera
Warum in London die Wiege der Epidemiologie steht
Wer schon einmal durch den bei Touristen beliebten Londoner Stadtteil Soho geschlendert und dabei durstig geworden ist, der kennt vielleicht den Pub John Snow. Die Kneipe weckt aus vielen Gründen das Interesse von Besuchern: Benannt nach dem Leibarzt von Königin Victoria teilt er sich seine Adresse in der Broadwick Street mit einer Wasserpumpe ohne Schwengel, die gegenüber vom Eingang des Pubs steht. So richtig interessant wird es, wenn man sich die Geschichte der Pumpe anschaut und wie sie mit der Fachdisziplin der Medizinischen Epidemiologie zusammenhängt.
Das London des 19. Jahrhunderts brachte es zu zweifelhaftem Ruhm: Über den Armenvierteln lag ein beißender Gestank. Er stieg aus den Rinnen der Straßen auf, in denen sich menschliche Ausscheidungen mit anderem Unrat mischten.1 Nachdem es Anfang der 1830er Jahre zu einem Cholera-Ausbruch in den südlichen Armenvierteln Londons gekommen war, ordnete die Stadt an, diese Rinnen zu säubern. Man ging nämlich davon aus, dass schlechte Dünste für die Epidemie verantwortlich gewesen waren – getreu der damals vorherrschenden Miasmentheorie. Die übelriechende Kloake wurde fortan in die Themse gespült und ein Abwassersystem installiert. Außerdem begann man, die Haushalte an die Wasserversorgung anzuschließen.
Als allerdings im Jahr 1848 der nächste Cholera-Ausbruch begann, wurde schnell klar, dass er noch heftiger verlief als frühere. Mehr als 14.000 Menschen verloren im Verlauf dieser Epidemie ihr Leben. Sie litten unter schwersten Durchfällen, die den Wasser- und Salzhaushalt ihrer geschwächten Körper so stark störten, dass sie starben. Mediziner und Stadtverwaltung waren ratlos, denn der neue Ausbruch zeigte, dass ihre „Dünste“-Theorie falsch gewesen war und ihre Maßnahme offenbar wirkungslos.
Viel Spürsinn und glückliche Zufälle
Zu dieser Zeit arbeitete John Snow, der spätere Leibarzt von Königin Victoria, in den Armenvierteln, die besonders stark betroffen waren. Ihm kam während des Ausbruchs ein neuer Gedanke: Könnte die Krankheit durch eine sogenannte „tödliche Substanz“ ausgelöst worden sein, die sich mit dem Trinkwasser verbreitete? Seine Theorie fand jedoch wenig Beachtung, denn Snow konnte sie nicht beweisen.
1853 brachte ein Hamburger Matrose die Cholera erneut nach London – er gilt als sogenannter Indexfall. Als kurz darauf sein Zimmernachfolger ebenfalls erkrankte, hatte Snow sogleich die verseuchte Bettwäsche im Verdacht und sein Forschergeist wurde neu entfacht. Dank einer Kombination aus glücklichem Zufall und systematischer Methodik – so wie man es aus einem guten Krimi kennt – gelang es Snow tatsächlich, ein Jahr später den Cholera-Ausbruch zu stoppen. Und das kam so:
Zunächst suchte Snow nach Antworten auf zahlreiche Fragen: Wer ist krank geworden? Wie viele Menschen sind erkrankt? Wann sind sie krank geworden? Und wo lebten sie? Fragen, die übrigens heute noch von Epidemiologen gestellt werden, wenn sie die Verbreitung einer Krankheit untersuchen (wie zum Beispiel beim Ebola-Ausbruch in Afrika). Um sie zu beantworten, musste Snow zunächst definieren, was „krank sein“ bedeutete. Das war im Fall der Cholera zum einen der plötzlich eintretende Tod und zum anderen die vorausgegangenen heftigen Durchfälle. Mit dieser Definition gingen er und seine Helfer von Tür zu Tür.
Als sie sich die Zahlen später in ihrer Tabelle anschauten, stellten sie etwas Merkwürdiges fest: Von den Menschen, die von einem flussaufwärts gelegenen Wasserwerk versorgt wurden, starben nur 14 an der Cholera, wohingegen 286 Choleratote zu den Kunden des Wasserwerks gehörten, das flussabwärts des Armenviertels lag. Doch das allein war noch kein Beweis, dass die Trinkwasserqualität eine Rolle spielte, denn es könnte ja einen Unterschied in der tatsächlichen Kundenzahl geben. Snow musste weiter recherchieren und rechnen, um das relative Krankheitsrisiko herauszubekommen, also die Anzahl der Erkrankten zur Anzahl der Wasserwerkskunden in Bezug setzen.
Dabei stellte sich heraus, dass Kunden des Wasserwerks, das flussabwärts lag – die also Themse-Wasser tranken, das mit den Abwässern aus den Armenvierteln belastet war – ein circa achtfach erhöhtes Risiko hatten an Cholera zu sterben im Vergleich zu ihren Nachbarn flussaufwärts. Damit konnte Snow die ersten beiden Fragen beantworten: Wer und wie viele sind erkrankt? Außerdem unterstützte das Ergebnis seine Annahme, wonach das Trinkwasser für die Übertragung ausschlaggebend war.
Wie viel glücklicher Zufall bei seiner Untersuchung eine Rolle gespielt hatte, war ihm wahrscheinlich nicht bewusst. Denn wäre nicht im Jahr 1852 eins der beiden Wasserwerke flussaufwärts gezogen, hätte Snow seine Hypothese nicht bestätigen können – es hätte ihm schlicht der Vergleich gefehlt.
Eine Straßenkarte, eine Verlaufskurve und ein Schraubenschlüssel
Trotzdem brauchte Snow noch weitere Informationen: Wo traten die Cholerafälle genau auf und wann? Im Sommer 1854 fand er Antworten, die ihm halfen, die Epidemie zu stoppen. Zu dieser Zeit war Soho besonders stark von der Cholera betroffen. Snow zeichnete alle Krankheitsfälle mit einem Punkt in eine Karte ein und markierte auch die Standorte der Pumpen, aus denen die Menschen mit Eimern Wasser holten. Solche Punktekarten werden auch heute noch benutzt, um die Quelle der Bakterienverschmutzung zu identifizieren.2 Snow notierte außerdem den Tag, an dem die später Verstorbenen erste Symptome gezeigt hatten und erstellte eine sogenannte epidemische Kurve. Sie zeigte die Dynamik des Ausbruchs. Nach Auswertung dieser Daten war klar, dass die Gefahr von einer Wasserpumpe ausging: Rund um die Pumpe, die heute vor dem Pub steht, häuften sich die Cholerafälle auffällig.
Snow überzeugte die Stadtverwaltung, den Pumpenschwengel abzuschrauben – und die Epidemie kam zum Erliegen. Später stellte sich heraus, dass eine Senkgrube, in der Ausscheidungen entsorgt wurden, nur einen Meter von der Pumpe entfernt lag und ein Leck gehabt hatte, sodass sie das umliegende Grundwasser verseuchte.
Cholera besiegt
Die Ironie der Geschichte wollte es also, dass Londons neue Kanalisation und die organisierte Wasserversorgung dazu beitrugen, dass die Cholera-Ausbrüche zuerst intensiver und häufiger wurden, zugleich aber die Voraussetzungen dafür schafften, die wahre Ursache zu finden – eine „krankmachende Substanz“, die 30 Jahre später von Robert Koch als Bakterium mit dem Namen Vibrio cholerae identifiziert wurde.
Snows Entdeckungen sind seinem systematischen wissenschaftlichen Vorgehen zu verdanken. Er entwickelte durch Beobachten eine Hypothese, sammelte Daten, wertete sie aus und zog daraus eine Schlussfolgerung, aus der er schließlich eine Intervention ableitete. Ein Vorgehen, das bis heute die Basis der epidemiologischen Arbeit bildet.
Allerdings wurde die Bedeutung von John Snows Arbeit erst circa 100 Jahre später anerkannt – vermutlich, weil die Wissenschaft bemüht war zu verschleiern, wie lange sie der Miasmentheorie angehangen hatte.3 Jedenfalls gilt Snow heute als Begründer der Epidemiologie.
Inzwischen hält die John Snow Society4 das Andenken an den beeindruckenden Arzt lebendig und unterstützt die epidemiologische Wissenschaft, die sich auf seine Arbeiten gründet. Ob sich die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nach ihren Kongressen und Vorträgen in London noch auf ein Bier im Pub von Soho treffen und die Wasserpumpe ohne Pumpenschwengel bestaunen, ist leider nicht bekannt.
Lesetipp
Oliver Razum u.a. (2017) Epidemiologie für Dummies. Weinheim: Wiley-VCH, 416. S, 26,99 €
Stand: 12. September 2018 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 05/2018 / S.16