IGel-Wildwuchs
Nicht jedes Screening ist zu empfehlen
Etwa 1,5 Milliarden Euro gaben Patienten 2010 für so genannte Individuelle Gesundheits-Leistungen aus – von Augeninnendruckmessungen bis zu Ultraschalluntersuchungen. Diese kurz als IGeL bezeichneten Angebote in Arztpraxen erstatten die gesetzlichen Krankenversicherungen nicht. Patienten müssen sie also aus eigener Tasche bezahlen. Aber ist das Geld gut angelegt?
Nach einer schwammigen Definition der Bundesärztekammer sollen IGeL aus ärztlicher Sicht notwendig oder empfehlenswert, zumindest aber – und das klingt schon weniger überzeugend – „vertretbar sein“ und vom Patienten ausdrücklich gewünscht werden.1 Qualität und Angemessenheit der einzelnen IGeLAngebote sind nicht systematisch untersucht. Und selbst Ärzte streiten heftig darüber, ob und welche IGeL gerechtfertigt sind oder nicht. Von überflüssigen Untersuchungen, die Patienten aufgeschwatzt werden, ist dabei die Rede, aber auch von sinnvollen IGeL wie Reiseimpfungen oder Tauglichkeitsuntersuchungen für Sportvereine u.a.2 (siehe GPSP Interview 1/2009 S. 12-13).
Es fällt allerdings auf, dass gerade solche IGeL wie sportmedizinische Untersuchungen oder Reise-Impfungen, die nachvollziehbar nützlich sind, aber die persönliche Lebensführung betreffen und daher nicht von der Versichertengemeinschaft getragen werden, nur eine relativ untergeordnete Rolle spielen. Die am häufigsten angebotene IGeL ist mit 40% die Augeninnendruckmessung zur Früherkennung des Grünen Stars (Glaukom-Screening). Am zweithäufigsten sind mit 25% bestimmte Ultraschalluntersuchungen. Das Problem solcher IGeL-Angebote ist, dass sie vielfach gesunden Menschen angeraten werden, die kein erhöhtes Risiko haben.
Die Angst, als Spätfolge eines Glaukoms zu erblinden, ist wahrscheinlich eine wesentliche Motivation, am Glaukom-Screening teilzunehmen. Weil jedoch überhaupt nicht belegt ist, dass diese ungezielte Untersuchung von Gesunden das Erblindungsrisiko verringert, bezahlt die Krankenkasse das Glaukom-Screening nicht. Sie muss jedoch die Kosten solcher Früherkennungsuntersuchungen immer dann übernehmen, wenn beispielsweise ein begründeter Verdacht beziehungsweise ein individuell erhöhtes Risiko besteht oder ein bestehendes Glaukom kontrolliert werden soll.
Eine kürzlich veröffentlichte, in Deutschland mit öffentlichen Geldern finanzierte wissenschaftliche Untersuchung, in der einige IGeLAngebote überprüft wurden, bestätigt die Richtigkeit dieser Strategie: Belege, dass ein allgemeines Screening auf Glaukom das Erblindungsrisiko verringert, gibt es bis heute nicht.3 Liegen jedoch Risikofaktoren vor, zu denen auch höheres Alter oder starke Kurzsichtigkeit gehören, kann das Screening dennoch Sinn machen.
Auch für die häufig als IGeL propagierte vaginale Ultraschall-Untersuchung zur Früherkennung von Krebs der Eierstöcke oder der Gebärmutterschleimhaut finden die Wissenschaftler in ihrer aktuellen Studienaus- wertung keine Nutzenbelege. Fachgesellschaften von Gynäkologen und Krebsärzten sind sich schon länger einig, dass ein allgemeines Screening auf diese Krebserkrankungen nicht empfohlen werden kann.3,4 Die aktuelle Untersuchung offenbart jedoch eine bedenkliche Schattenseite des Screenings: die Überdiagnostik. Es gibt häufig Krebsalarm, wo kein Krebs ist. Das führt zu unnötigen Nachuntersuchungen und Eingriffen.3
Dies bestätigt jetzt eine sorgfältige große US-amerikanische Studie, die in die deutsche Untersuchung noch nicht aufgenommen werden konnte. Sie geht der Frage nach, ob Frauen durch die vaginale Ultraschall-Untersuchung und durch andere Untersuchungen auf Eierstockkrebs länger leben. Hierzu wurden 78.000 US-amerikanische Frauen zwischen 55 und 74 Jahren 11 bis 13 Jahre lang nachbeobachtet.5 Im Vergleich zur üblichen ärztlichen Betreuung konnte ein positiver Effekt des allgemeinen Screenings nicht ermittelt werden. Aber: Bei knapp 3.300 Frauen (8,4%) gab es Hinweise auf Eierstockkrebs, die sich später nicht bewahrheitet haben, also falsch positive Befunde darstellen. Da solche Hinweise grundsätzlich ernst genommen werden müssen, lösten sie Nachuntersuchungen aus. In der Folge kam es bei 163 gesunden Frauen (0,4%) mindestens zu einer schwerwiegenden Komplikation.5
Krankenkassen wie AOK oder TK, der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V. u.a. bieten im Internet nützliche Informationen zu IGeL an.6 Eine systematische Bewertung aller IGeL-Angebote fehlt jedoch. Standesvertretungen der Ärzte sehen wir in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass unzutreffende Angaben zu IGeL, die in Arztpraxen verbreitet werden, aus dem Verkehr gezogen werden. Eine von unabhängiger Seite erarbeitete Positivliste sinnvoller Angebote bzw. eine Negativliste zweifelhafter Leistungen sollte die Spreu vom Weizen trennen.
Stand: 1. Dezember 2011 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2011 / S.03