„Heillose Zustände“
Diese Sammlung von Zustandsbeschreibungen ist wahrlich keine aufbauende Lektüre. Sie bietet aber jede Menge Informationen. Wer genauer wissen will, wo und warum es in unserem Gesundheitssystem mächtig knirscht, dem ist das Buch zu empfehlen. Denn Werner Bartens bringt all das zwischen zwei Buchdeckel, was man an der Medizin in Deutschland kritisieren kann und muss. Angefangen von unbewiesenen Therapien wie der Wirbelzementierung und schädlichen Interventionen bei Gesunden – etwa Hormontabletten in den Wechseljahren (GPSP 1/2005, S. 7; 5/2007 S.8) – bis hin zu oft im Übermaß eingesetzten Diagnoseverfahren wie Ultraschall oder Röntgen. Und natürlich geht es auch um die miserable Kontrolle von Brustimplantaten, künstlichen Hüftgelenken und anderen Medizinprodukten (siehe gegenüber).
Der Autor reiht Beispiel an Beispiel, um die Auswüchse eines Systems zu zeigen, das er krank nennt. Viel wichtiger als Patient und Patientin sei der Profit, meint Bartens. Er ist Wissenschaftsredakteur bei der Süddeutschen Zeitung und hat in seinem ersten Leben – als Arzt in deutschen Krankenhäusern – praktische Erfahrungen und Eindrücke gesammelt. Seither kritisiert er die Gesundheitsindustrie, die umso besser floriert, je mehr Kranke es gibt. Dass der Medizinbetrieb Profit abwerfen soll und als Wachstumsbranche gehandelt wird, hat Folgen: Es werden Grenzwerte etwa für den Blutdruck gesenkt und damit gesunde Menschen zu Patienten gemacht, viel zu viele Kniegelenke gespiegelt, neue Krankheiten – wie die Wechseljahre des Mannes – erfunden oder von Behörden teure Grippemittel wie Tamiflu® gebunkert, obwohl deren Nutzen nicht belegt ist (siehe S. 11).
Dass Werner Bartens einseitig ist, zuspitzt und generalisiert, wird nicht jedem gefallen, aber hier gesundgeht es um eine kritische Zusammenschau der Auswüchse und deren Folgen. Und erfreulicherweise sind seine Argumente gut durch Quellen belegt – was nicht jeder medizinkritische Sachbuchautor schafft. Das gilt auch für das Stichwortverzeichnis. Am Ende macht er sich noch darüber Gedanken, was sich ändern muss. Da fordert er unter „Was tun“ z.B. einen persönlicheren Umgang mit Patienten, dass die private Krankenversicherung abgeschafft und die Behandlung auf Basis einer Medikamenten-Positivliste rationaler wird. Eine bereits fertige Liste mit 1.500 nützlichen Arzneimitteln statt des unübersichtlichen Haufens von 60.000 Präparaten verschwand in der Schublade – die Politik knickte vor der Wirtschaft ein.
Wenn Sie Fakten lesen wollen und keine Horrorgeschichten über geldgierige Pharmaunternehmen oder korrupte Ärzte, dann sind Sie bei „Heillose Zustände“ wahrscheinlich genau richtig. GPSP-Leser und -Leserinnen werden einen guten Teil der behandelten Probleme bereits kennen.
Stand: 1. Dezember 2012 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2012 / S.16