Amitriptylin
Bei einer schweren Depression verordnen Ärzte fast immer ein Psychopharmakon. Doch welche Mittel kommen in Frage? Amitriptylin gibt es seit über 50 Jahren, und es ist – trotz manch lästiger unerwünschter Wirkung – bis heute ein wertvolles Antidepressivum.
Nicht immer ist das Neueste das Beste. Wenn wir in dieser Rubrik „alte Pillen“ vorstellen, dann nicht etwa, weil sie inzwischen so preisgünstig sind, sondern weil sie nachgewiesen wirksam und insbesondere ihre Risiken aufgrund langjähriger Erfahrung besonders gut bekannt sind. Deshalb sind altbekannte Arzneistoffe oft „Mittel der ersten Wahl“ – wie der Mediziner sagt.
Antidepressiva mit dem „alten“ Wirkstoff Amitriptylin wie Amitriptylin-neurexpharm® oder Saroten® konnten sich in Deutschland gegenüber den neueren Antidepressiva vom Typ SSRI behaupten.1 Dafür gibt es gute Gründe, die auch die Weltgesundheitsorganisation motiviert haben, Amitriptylin in die kompakte Liste der unbedingt notwendigen Arzneimittel aufzunehmen.2 (Und darin stehen nur zwei Antidepressiva!)
Nur bei schwerer Depression
Depressionen sind heutzutage stark verbreitet: Unter einer mehr oder minder heftig ausfallenden Erkrankung leidet jeder sechste in Deutschland irgendwann in seinem Leben.
Eine Depression erfasst nicht nur das seelische Wohlbefinden, sondern auch die körperliche Gesundheit. Das geht so weit, dass bei Menschen mit einer schweren Depression die durchschnittliche Lebenszeit verkürzt ist. Bei einer gleichzeitig bestehenden Herzkranzgefäßerkrankung ist das Risiko, an dieser zu sterben, erhöht. Bei älteren Menschen ist auch das Risiko, an Diabetes zu erkranken, höher.3
Bis in die 1950er Jahre gab es keine geeignete medikamentöse Behandlung. Das erste Antidepressivum war Imipramin, auf das die Schweizer Firma Ciba-Geigy rein zufällig gestoßen war. Amitriptylin wurde dann 1962 von der dänischen Firma Lundbeck auf den Markt gebracht. Es gehört wie Imipramin zur Gruppe der so genannten „trizyklischen“ Antidepressiva, die man heute auch NSMRI nennt (siehe Kasten). Der Name „trizyklisch“ bezieht sich auf die chemische Struktur. Amitriptylin war über viele Jahre eines der meistverordneten NSMRI-Antidepressiva. Bis heute verordnen es Kassenärzte häufiger als andere NSMRI und bevorzugen es in der Arzneimitteltherapie trotz massiver Konkurrenz durch neuere SSRI-Antidepressiva.1
Vertreibt nicht jede Depression
Für Amitriptylin gilt wie für alle Antidepressiva, dass bei leichteren Depressionen die Wirksamkeit im Vergleich zu Placebo kaum nachweisbar ist. Solche Arzneimittel sollten darum vornehmlich bei mittelschweren und schweren Depressionen verordnet werden.4
Der Anteil der Patienten, die nachweislich von Antidepressiva profitieren, liegt – gleichgültig, welche Substanzklasse auf dem Rezept steht – nur etwa 20% über der Wirksamkeit von wirkstofffreien Placebos. Eine Metaanalyse, die mehrere Studien zur Wirksamkeit und Verträglichkeit von Antidepressiva berücksichtigte, fand heraus, dass in kassenärztlichen Praxen 56 bis 69 % der depressiv Erkrankten einen Nutzen hatten. Dieser fand sich aber auch bei 42 bis 47 % der Patienten, die nur ein Placebo eingenommen hatten.5 Anders ausgedrückt: Ärzte müssten vier Patienten oder Patientinnen behandeln, damit bei einem oder einer eine eindeutige Besserung zu erkennen ist, die nicht durch den Placeboeffekt erklärt wird. Bei SSRI-Antidepressiva müssten sogar im Schnitt sechs depressiv Erkrankte ein Medikament einnehmen, damit einer profitiert. Einige Studien sprechen dafür, dass bei der schweren („melancholischen“) Depression NSMRI sogar besser wirken als die SSRI.
Vielfältig wirksam
Amitriptylin wirkt stimmungsaufhellend und lindert die depressionsbedingte Antriebshemmung. Zudem nehmen die oft bedrängenden Angstgefühle ab. Je nach Dosis kann Amitriptylin recht müde machen, was manchmal von Vorteil ist, weil eine Depression oft nicht nur von Angst und Unruhe begleitet wird, sondern auch von quälenden Schlafstörungen.
Amitriptylin kann daher – auch ohne Vorliegen einer Depression – bei hartnäckigen Schlafstörungen eine gute und hilfreiche Alternative für Schlafmittel vom Typ der Benzodiazepine sein, die rasch abhängig machen. Darum eignet es sich für Menschen, die einer Benzodiazepin-Abhängigkeit entkommen wollen.
Zugelassen ist Amitriptylin ferner für die langfristige Behandlung chronischer Schmerzen (im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzepts!). In Kombination mit einem klassischen Schmerzmittel kann es dessen Wirksamkeit verstärken.6
Und auch bei der langfristigen Vorbeugung von Migräneanfällen zählt Amitriptylin in manchen Ländern als Mittel der ersten Wahl 7 oder zweiten Wahl (in Deutschland).8
Daneben gibt es weitere Anwendungsgebiete, etwa die posttraumatische Belastungsstörung, für die der Wirkstoff aber nicht zugelassen ist. Auch zur Prävention des chronischen Spannungskopfschmerzes, der häufig eine Folge des langjährigen Missbrauchs von Schmerzmitteln ist – verordnen Ärzte oft Amitriptylin, was auch von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft empfohlen wird.6 Bei diesen Anwendungen außerhalb einer Depressionsbehandlung ist oft eine eher niedrige Dosis schon wirksam, wodurch auch das Risiko unerwünschter Wirkungen reduziert wird (siehe unten).
Lästige Wirkungen
Bei NSMRI müssen Patienten mit anderen unerwünschten Wirkungen rechnen als bei den neueren SSRI. Jedoch bedeutet dies nicht, dass Amitriptylin insgesamt schlechter verträglich ist. Die häufigsten unerwünschten und manchmal sehr lästigen Folgen seiner Anwendung sind Zittern der Finger (Tremor), Pulsanstieg, Herzklopfen, Schwindel sowie starke Müdigkeit. Auch kann das EKG verändert sein. Nicht selten kommen auch hartnäckige Verstopfung, Gewichtszunahme und verschwommenes Sehen vor. Insbesondere ältere Patienten können verwirrt sein und leichter stürzen. Von der Verwendung der NSMRI bei betagten und hochbetagten Patienten wird deshalb im Allgemeinen eher abgeraten, insbesondere wenn gleichzeitig noch zahlreiche andere Medikamente eingenommen werden. Auch die Sexualität kann beeinträchtigt sein, obwohl dies bei den SSRI-Antidepressiva häufiger beklagt wird. Bei Männern mit gutartiger Prostatavergrößerung kommt es manchmal zu einem „akuten Harnverhalt“ – wie der Mediziner sagt. Sie möchten pinkeln, können aber nicht.
Und noch ein wichtiger Hinweis. Es wird Ärzten und Ärztinnen empfohlen, die Konzentration von Amitriptylin im Blut bestimmen zu lassen und auf dieser Grundlage die Therapie möglichst wirksam und gleichzeitig möglichst nebenwirkungsarm zu machen.9
Stand: 22. Juni 2015 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 04/2015 / S.08