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Vorsicht geboten: Neuroleptika für ältere Menschen mit Demenz

Menschen mit Demenz leben häufig in Pflegeheimen. Mehr als jeder Zweite erhält dort wegen störender Verhaltensweisen Psychopharmaka, vor allem Neuroleptika. Ist das sinnvoll?

Neuroleptika, auch Antipsychotika genannt, wurden ursprünglich entwickelt, um die wahnhaften Symptome und krankhaften Verhaltensweisen schizophrener Patienten zu mildern. Sie werden heutzutage auch bei einer Vielzahl anderer psychischer Störungen verordnet.

Eine besondere Rolle bei diesem zunehmend „großflächigen“ Einsatz spielen die so genannten „atypischen“ Neuroleptika, deren angeblich geringeres Nebenwirkungsrisiko seit Jahren von pharmazeutischen Herstellern werbewirksam herausgestellt wird. Seit Jahren kritisieren die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und unabhängige Pharmazeitschriften die zu häufige Anwendung dieser Substanzen bei Patienten und Patientinnen mit Demenz.

Menschen mit fortgeschrittener Demenz sind häufig reizbar, unruhig, aggressiv oder enthemmt. Dieses Verhalten ist für Angehörige und Pflegepersonen oft weit belastender als die nachlassende Gedächtnisleistung. Häufig fordern sie mit Nachdruck vom betreuenden Arzt im Pflegeheim rasche Abhilfe.

Das mag mit dazu beitragen, dass Neuroleptika so häufig in deutschen Alters- und Pflegeheimen verordnet werden. Nach einer Erhebung von 2001 erhielten in Leipzig sechs von zehn Bewohnern in Alten- oder Pflegeheimen Psychopharmaka, meist Neuroleptika.3 Eine neuere Studie an 30 deutschen psychiatrischen Kliniken bestätigt den Vielgebrauch: Dieser zufolge nehmen drei von vier Patienten mit Demenz Mittel wie Quetiapin (Seroquel®), Risperidon (Risperdal® u.a.) oder Olanzapin (Zyprexa® u.a.).4 Neuroleptika sind in Altenpflegeheimen – nach Schmerzmitteln – die Medikamentengruppe, die am häufigsten auf einem Rezept steht.5

Wirksamkeit sehr begrenzt

Bedenklich ist dabei, dass diese Medikamente bei Verhaltensauffälligkeiten als Folge einer Demenz keineswegs gut wirken: Ein zusammenfassender Report von 2009 für das britische Gesundheitsministerium bewertete ihre Wirksamkeit insgesamt als „minimal“.6

Die meisten Neuroleptika werden bei Demenz verwendet, obwohl sie hierfür gar nicht zugelassen sind. Hierfür zugelassen ist in Deutschland nur Melperon, während das atypische Neuroleptikum Risperidon nur sehr eingeschränkt eingesetzt werden darf (nur bei chronischer Aggressivität oder Selbstgefährdung, die nicht anders behandelt werden kann).

Lebensgefährliche Folgen

Besonders bedenklich ist, dass Neuroleptika, seien sie nun „atypisch“ (z.B. Quetiapin) oder „typisch“ (z.B. Haloperidol), beträchtliche unerwünschte Wirkungen haben. Dazu gehören Auswirkungen auf die Motorik, z. B. Muskelkrämpfe oder Parkinson- ähnliche Symptome, wie auch Schäden am Herz-Kreislauf-System. Neuroleptika verursachen mitunter selbst schwere Verhaltensstörungen, die dann zu Unrecht der Demenz zugerechnet werden. Die „atypischen“ Neuroleptika können zu massiver Gewichtszunahme führen. Damit steigt nicht nur das Risiko, an Diabetes zu erkranken, sondern auch das Risiko von Schlaganfällen. Nach aktuellen Erkenntnissen verkürzen alle Neuroleptika die Lebensdauer dementer Patienten.5 Der oben erwähnte Bericht + aus Großbritannien enthält folgende schockierende Berechnung: Wenn 1.000 Patienten mit Demenz wegen Verhaltensstörungen zwölf Wochen lang atypische Neuroleptika einnehmen, führt das bei 91 bis maximal 200 von ihnen zu einer (geringen) Besserung. Anderseits sterben etwa 10 Patienten zusätzlich und 18 Patienten erleiden einen Schlaganfall, der bei jedem Zweiten schwer ist. Dehnt man den Behandlungszeitraum auf zwei Jahre aus, kommen Hochrechnungen auf bis zu 167 zusätzliche Todesfälle.

Der Nutzen dieser Psychopharmaka bei Demenzkranken ist also gering, der Schaden groß. Erstaunlich ist, dass trotzdem der größte Teil der Ärzte und des Pflegepersonals meint, Neuroleptika würden in dieser Situation gut helfen. Gleichzeitig sind aber dieselben Fachleute der Ansicht, vor allem nicht medikamentöse Behandlungsverfahren seien bei diesen Patienten angebracht.1

Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft empfehlt deshalb folgende Strategie, wenn stärkere Verhaltensauffälligkeiten bei Demenzkranken auftreten: Zunächst einmal müssen die einzelnen Symptome klar beschrieben und ihre möglichen Ursachen analysiert werden: Wodurch fühlt sich der Patient oder die Patientin geängstigt? Lässt sich eine erkannte Ursache abstellen? Fühlt sich der Patient beengt (kleines Zimmer, keine Privatsphäre), wurde er gar fixiert und versucht er, sich dagegen zu wehren? Hat er Schmerzen oder vielleicht einen ihn quälenden Harnverhalt? Ärzte müssen außerdem genau prüfen, ob ihr Patient tatsächlich beeinträchtigt ist bzw. sich so fühlt oder ob hauptsächlich Angehörige und Pflegepersonal eine medikamentöse Behandlung wünschen. Ein solcher Wunsch allein kann Neuroleptika-Verordnungen nicht rechtfertigen – selbst wenn andere sich durch den Patienten erheblich gestört fühlen, weil er z. B. ständig redet, ruhelos umherwandert oder scheinbar sinnlose Bewegungen unablässig wiederholt („Stereotypien“). Oft sind übrigens Schmerzen die Ursache für Verhaltensstörungen. Das erfordert zunächst einmal eine wirksame Schmerztherapie.

Manchmal kann auf der Grundlage strenger Kriterien zu rechtfertigen sein, schwierige Demenzkranke versuchsweise mit Neuroleptika zu behandeln. Dann aber müssen – möglichst im Team von Ärzten, Pflegepersonal, Sozialarbeitern – klare Ziel-Kriterien aufgestellt werden, damit nach 1 bis 3 Wochen messbar ist, ob sich ein bestimmtes Problem gebessert hat oder nicht. Auch wenn ein Nutzen erkennbar ist, darf das nicht in eine neuroleptische Dauermedikation münden. Denn die Risiken wachsen mit der Behandlungsdauer.

©Peter Maszlen

Quälendes Dilemma

Es ist keine Frage, dass sich Behandler und Pflegepersonal oft in einem quälenden Dilemma befinden: Sie wissen, dass eine größere Zahl von Pflegekräften manche Probleme lösen könnte und medikamentöse Eingriffe seltener notwendig wären. Anderseits sollen sie ein erträgliches Miteinander in der Einrichtung sicherstellen und für die körperliche Unversehrtheit aller Patienten sorgen. Ist ein Demenzkranker sehr unruhig und aggressiv, hat er die Tendenz, ständig wegzulaufen oder sich selbst zu beschädigen, gibt es dann manchmal nur noch die Möglichkeit, ihn mit nach präzisen Vorschriften angelegten Gurten zu fixieren. Eine solche Zwangsmaßnahme, die ärztlich angeordnet und gegebenenfalls auch gerichtlich genehmigt werden muss, ist für den Betroffenen und seine Angehörigen beängstigend und stellt selbstverständlich die absolute Ausnahme dar. Aber daraus erwächst wiederum der Druck auf den Arzt oder die Ärztin, doch lieber ein Neuroleptikum zu verordnen.

Aus dem problematischen Einsatz von Neuroleptika bei Demenzkranken, ergibt sich die Frage: Wie wollen wir anders mit alt und krank gewordenen Mitmenschen umgehen und wie viel finanzielle und persönliche Ressourcen wollen wir dafür frei machen? Anders gefragt: Haben ältere Demenzkranke weniger Hilfe verdient als etwa Menschen, die auf High-Tech-Medizin angewiesen sind, weil sie ein neues Organ benötigen, ganz besonders früh geboren wurden oder an Krebs erkrankt sind?

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2012 / S.09