Thyroxin: Zu oft auf dem Rezept?
Thyroxin wird vor allem dann verordnet, wenn die Schilddrüse nicht mehr in der Lage ist, dieses körpereigene Hormon in ausreichender Menge selbst zu produzieren – also bei Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose). Aber muss jeder „Mangel“ behandelt werden?
Das ist ein häufiges Dilemma in der Medizin: Behandelt der Arzt eine Funktionsstörung des Körpers – abzulesen an einem Laborwert – oder eine Krankheit? Thyroxin, genauer: L-Thyroxin, finden viele Menschen auf ihrer Medikamentenliste. In Deutschland haben Verordnungen von Schilddrüsenhormonen wie Thyroxin in den letzten zehn Jahren um 50% zugenommen und zählen inzwischen – mit über 1,3 Milliarden Tagesdosen pro Jahr – zu den am häufigsten verordneten Wirkstoffen.1 Doch wie kommt es dazu? Die meisten Patienten erhalten Thyroxin vermutlich nicht wegen der Beschwerden, die sie in eine ärztlich Praxis geführt haben, sondern weil bei ihnen im Rahmen einer Routine-Laboruntersuchung ein auffälliger Schilddrüsenwert im Blut festgestellt wurde.
Anzeichen
Typische Zeichen einer Schilddrüsenunterfunktion sind allgemeine Schwäche, Müdigkeit, Verstopfung und Konzentrationsstörungen – sowie weitere „unspezifische“ Symptome, also solche Beschwerden, die nicht typisch für bestimmte Krankheiten sind, sondern bei vielen Umständen und Krankheiten vorkommen können. Stellt aber der Hausarzt – mit oder ohne Angabe solcher Beschwerden – einen erhöhten Blutspiegel des Schilddrüsen-Regulierungshormons TSH fest, greift er oft zum Rezeptblock und verschreibt Thyroxin unter der Annahme einer behandlungsbedürftigen Unterfunktion.
Und wann behandeln?
Eine aktuelle Übersichtsarbeit2 beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, bei welchem TSH-Wert eine Thyroxin-Substitution tatsächlich sinnvoll ist. Wir hatten in GPSP 6/2015 bereits festgestellt, dass erst ab einem TSH-Wert über 10 mU/l die Einleitung einer Medikation wissenschaftlich gut begründet ist, während TSH-Werte zwischen 4 und 10 mU/l einen Graubereich darstellen, in dem die Notwendigkeit einer Substitution nicht ausreichend belegt ist.3 Die aktuelle Übersicht bekräftigt dies.
Doch was ist, wenn ein älterer Mensch über Abgeschlagenheit oder eines der anderen oben genannten Symptome klagt und ein TSH-Spiegel von 7 mU/l gemessen wird? Ärzte werden zunächst versuchen abzugrenzen, ob die Beschwerden noch andere Ursachen haben könnten, oder einfach mit dem Alter des Patienten zu erklären sind. Grundsätzlich gilt: Je höher der TSH-Wert, umso eher ist zumindest ein Therapieversuch mit Thyroxin gerechtfertigt. Doch sollten Ärzte konsequent darauf achten, ob der Patient oder die Patientin sich dann wirklich besser fühlt.
Ansonsten ist diese Medikation nicht nur unnütz und verursacht unnötige Kosten, sondern stellt auch ein Risiko dar. Gesichert ist zum Beispiel ein um 6% erhöhtes Risiko für Knochenbrüche. Das ist zwar nur eine geringe Zunahme, allerdings fällt das angesichts der hohen Zahl an Verordnungen ins Gewicht. Auch schon lange wird ein erhöhtes Risiko für Herzrhythmusstörungen vermutet, gerade wenn Thyroxin überdosiert wird – was bei jedem zehnten Patienten der Fall ist.
Fazit
Weiterhin gilt, dass ein nur mäßig erhöhter TSH-Wert nicht reflexhaft zur Verordnung von Thyroxin führen sollte. Falls Sie Thyroxin erhalten, sollten Sie Ihren Arzt oder Ihre Ärztin einmal im Jahr um eine Überprüfung bitten, ob Sie das Medikament auch wirklich dauerhaft brauchen (siehe Interview in dieser Ausgabe S. 19).
Stand: 3. Mai 2018 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 03/2018 / S.16