Nüchtern und hilfreich: Möglichkeiten und Grenzen von Antidepressiva
Seit Jahren steigen die Verordnungszahlen an Antidepressiva – obwohl die Wirksamkeit oft überschätzt wird und viele Patientinnen und Patienten an teils starken Nebenwirkungen leiden. Umfassende Aufklärung zum Thema bietet das Buch „Antidepressiva“.
Sind Antidepressiva Lebensretter? Oder gefährliche Medikamente ohne echten Nutzen? Zwischen diesen Polen bewegt sich die Berichterstattung. Wie also sollen sich dann all diejenigen orientieren, die unter einer Depression leiden?
Abhilfe will das Buch „Antidepressiva“ des Berliner Psychiaters Tom Bschor schaffen, dem es seit vielen Jahren um eine bessere Behandlung von Depressionen geht (GPSP 2008/1, S. 12). Er ist Mitautor einer ärztlichen Behandlungsleitlinie zu diesem Thema.
Den Auftakt des Buchs bildet ein kurzer geschichtlicher Abriss zu richtungsweisenden Entdeckungen und Arzneimittelentwicklungen in der Psychiatrie zwischen 1950 und 1970. Danach beleuchtet der Autor die Erkrankung genauer: Wann sprechen Fachleute tatsächlich von einer Depression und wie wird die Diagnose gestellt? Gut verständlich schildert er die wichtigsten Beschwerden, die Schweregrade der Erkrankung sowie ihren natürlichen Verlauf. Auch finden sich Informationen, welche weiteren Abklärungen nötig sind: Wann ist tatsächlich eine Depression die Ursache für die Beschwerden und wann sind andere Gründe verantwortlich, etwa Nebenwirkungen von Medikamenten oder eine Trauerreaktion?
Anschaulich erklärt Tom Bschor die Wirkmechanismen der verschiedenen Antidepressiva, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Wem das etwas zu ausführlich geraten ist, kann dank der übersichtlichen Gliederung und selbsterklärenden Überschriften einen Abschnitt überspringen, ohne den roten Faden zu verlieren.
Nichts wirklich Neues
Der Autor macht keinen Hehl aus seiner Enttäuschung, dass Durchbrüche in der Entwicklung von Antidepressiva seit Langem ausstehen. Dabei besteht ein großer Bedarf an Medikamenten mit zuverlässigerer und schnellerer Wirkung, die auch besser vor Selbsttötungen schützen. Ein wichtiger Grund für das Versagen der Forschung: das komplexe Krankheitsbild, bei dem vielfältige biologische, psychische und soziale Ursachen zusammenkommen. Daraus resultiert vermutlich der hohe Placeboeffekt von Antidepressiva: Gut ein Drittel der Patienten spricht auf Scheinmedikamente ohne Wirkstoff an. Der Autor beschreibt explizit, wie dadurch ein viel zu günstiges Bild der Antidepressiva entstanden ist und wie die pharmazeutische Industrie versucht, das Bild weiter zu schönen.
Guter Ratgeber
Einen breiten Raum nehmen praktische Ratschläge ein: Wer sollte Antidepressiva einnehmen, wer kann es zumindest versuchen, wer sollte Abstand davon nehmen? Welche Wirkstoffgruppen sind für welche Patienten mehr, welche weniger geeignet? Wie schützt man sich vor Nebenwirkungen? Was tun, wenn ein Antidepressivum nicht hilft?
Auch nichtmedikamentöse Behandlungsansätze werden angesprochen. Bemerkenswert sind die ausführlichen Informationen zur Elektrokrampftherapie.
Fast zu bescheiden gewählt ist der Titel dieses Buches: Es handelt sich um einen umfassenden Patientenratgeber zum Krankheitsbild Depression, vor allem zur Behandlung mit Medikamenten. Der erfahrene Psychiater beschreibt, was Betroffene von Antidepressiva erwarten können – und was nicht. Eine ernüchternde Lektüre und ein wohltuender Kontrast zu den übersteigerten Hoffnungen, die die Pharmabranche weckt.
Placebo
GPSP 3/2012, S. 3
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S. 14 in diesem Heft
Stand: 1. März 2019 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 02/2019 / S.09