Wenn Ängste überhand nehmen
Die „Sorgenkrankheit“ und andere Angststörungen
Immer mehr Menschen sind wegen psychischer Probleme krankgeschrieben. Besonders viele haben Depressionen oder Angststörungen. Während jedoch heutzutage Sportler und andere Prominente vielfach keinen Hehl daraus machen, wenn sie unter Depressionen leiden, sind Angststörungen weiterhin ein Tabu. Wer starke Ängste hat, versucht, das so gut es geht zu verbergen und verhindert so, dass ihm beizeiten geholfen wird. Darüber sprachen wir mit der Ärztin Teresa Biermann und erfuhren auch, wie sich Sorgen ausdehnen und den Alltag unerträglich machen können.
GPSP: Wenn ich einkaufe, spazieren gehe, eine Ausstellung oder ein Konzert besuche, muss ich davon ausgehen, dass jeder Siebte meiner Mitmenschen selbst Erfahrungen mit einer Angststörung hat.1 Das sind unglaublich viele. Ist das noch normal?
Biermann: Es ist jedenfalls so, dass Angststörungen die häufigste psychische Krankheit sind, noch vor den Depressionen.
GPSP: Aber war das immer so? Oder haben Angststörungen in den letzten Jahrzehnten zugenommen?
Biermann: Das ist nicht leicht zu beantworten. Denn bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein wurden vor allem die körperlichen Symptome und weniger die auslösenden Angstgefühle diagnostiziert und behandelt. Patienten kamen zum Beispiel mit Herzrasen in die Notaufnahme und erhielten nach vielen Untersuchungen ohne Ergebnis die Diagnose „Herzneurose“. Damit wurde ihnen nicht wirklich geholfen.
GPSP: Wodurch hat sich das geändert?
Biermann: Immer wieder haben Ärzte vermutet, dass die Psyche Krankheitssymptome verursachen kann. Als einer sich dann mal nur Patientenakten vorgenommen hat, die schwerer wogen als einige Kilo, fiel ihm auf, dass gerade bei diesen Patienten keine organischen Störungen vorlagen, sondern die Psyche betroffen war. Sie litten häufig unter wiederkehrenden Panikattacken oder psychosomatischen Erkrankungen, die wir heute als somatoforme Störungen bezeichnen. Die Psychosomatiker Rainer Schäfert und Peter Henningsen aus München umschreiben dies auch als „Syndrom der dicken Akte“ (siehe auch S. 16).
GPSP: Also verursachten Ängste die Beschwerden und hätten behandelt werden müssen.
Biermann: Ja. Es dauert auch noch heute oft 5 bis 15 Jahre bevor eine Angsterkrankung diagnostiziert wird, weil Betroffene das Problem, solange es geht, kaschieren. Aber wir Ärzte haben dazugelernt: Wer mit entsprechenden Symptomen drei- oder viermal in der Notaufnahme erscheint, bei dem wird eine Panikstörung vermutet und er würde in die psychiatrische Aufnahme geschickt werden.
GPSP: Aber möchte er das?
Biermann: Wir können nur so helfen. Panikattacken entstehen anfallsartig, für den Betroffenen oft wie aus dem Nichts. Man bekommt Herzrasen, Schweißausbruch, Zittern und empfindet Todesangst. Zwar dauert eine solche Attacke im Schnitt nur 30 Minuten aber die sind schrecklich. Wer betroffen ist, versucht daher ständig, Situationen zu vermeiden, die wieder Panik auslösen könnten. Aber das gelingt ihm nicht, und das macht ihn auf Dauer fertig.
GPSP: Wie kommt es überhaupt zu einer Panikstörung?
Biermann: Das lässt sich zum Beispiel mit dem lerntheoretischen Ansatz erklären. Beginnen wir damit, dass bestimmte Situationen für Menschen aus guten Gründen beängstigend sind, etwa ein großer Hund, Gewitter oder auch grüner Schleim, der mit schweren Erkrankungen verbunden ist. Die Evolution hat dafür gesorgt, dass wir bestimmten Gefahren mit Vorsicht begegnen. Taucht nun im Alltag plötzlich ein Kampfhund auf und es geht uns sowieso gerade miserabel – wegen einer Trennung oder drohendem Arbeitsplatzverlust – dann kann dieser Hund Panik auslösen. Leider kann sich aus dieser einmaligen Erfahrung eine Panikstörung entwickeln, so dass alle großen Hunde übermäßige Angst auslösen, später möglicherweise auch kleinere Hunde. Und vielleicht macht einem schon bald darauf die Vorstellung, dass gleich ein Hund um die Ecke kommt, panisch.
GPSP: Traut man sich dann noch vor die Tür?
Biermann: Eventuell nicht. Denn in Panik fühlt man sich wie gelähmt, der Angst hilflos ausgeliefert. Und wer mehr als eine Panikattacke erlebt hat, bekommt oft zunehmend Angst vor der Angst.
GPSP: Wie kommt es denn zu den starken körperlichen Beschwerden, sind die eventuell lebensbedrohlich?
Biermann: Soweit wir wissen nicht. Und was die Symptome angeht – die rühren von der Aktivierung des sympathischen Nervensystems her. Dieser Teil des „unbewussten“ Nervensystems wirkt über Botenstoffe auf Herz und Kreislauf anregend und aktiviert den Körper bei einer Gefahr. Die Reaktion ist in unserem Beispiel aber nicht angemessen. Realistisch gesehen bestand keine echte Bedrohung durch den Hund. Doch solche biologisch vorbereiteten Signalmuster spielen bei Panikstörungen oft eine Rolle.
GPSP: Wovor haben Menschen noch Angst?
Biermann: Es gibt natürlich Angst vor Spinnen oder Schlangen, aber im modernen Alltag viel belastender ist die Agora-Phobie. Personen mit dieser Angststörung meiden unübersichtliche Plätze mit vielen Menschen. Sie mögen nicht im Supermarkt einkaufen oder ins Kino gehen, weil sie Angst haben, nicht schnell genug wegzukommen. Die Vermeidungsstrategie verschafft Ihnen zwar kurzfristig Erleichterung, aber da sich ihr Problem meist ausweitet, wird ihr Aktionsradius immer kleiner. Eine meiner Patientinnen hatte ihren kleinstädtischen Wohnort über 10 Jahre nicht verlassen, eine andere ging überhaupt nicht mehr aus dem Haus.
GPSP: Wie unterscheidet sich die Agora- Phobie von anderen sozialen Phobien, da spielen doch ebenfalls Personen eine Rolle?
Biermann: Einfach ausgedrückt haben Betroffene besonders große Angst, öffentlich zu reden, oder fürchten, dass andere schlecht über sie denken oder dass sie sich blamieren. Sie vermeiden daher soziale Situationen und versuchen oft, ihre Angst mit Alkohol oder Beruhigungsmitteln in den Griff zu bekommen. Sie fühlen sich dann lockerer, und darum ist die Suchtgefahr, also ein Missbrauch von Substanzen aller Art, groß.
GPSP: Wie können Sie in der Psychiatrie helfen?
Biermann: Oft sind Angststörungen gut ambulant zu behandeln, zumal wenn die Probleme nicht zu lange verschleppt werden. Bei sozialen Phobien müssen wir häufig zunächst in einer Klinik Missbrauch und Abhängigkeit von Alkohol oder Tabletten angehen. Natürlich klären wir jeden Patienten über seine Erkrankung und Behandlungsmöglichkeiten auf. Wir reden über die Angstauslöser und versuchen, ein Umdenken zu erzielen. Dies geschieht im Rahmen der kognitiven Verhaltenstherapie …
GPSP: … die ja bei Angsterkrankungen sehr erfolgreich ist.
Biermann: Sie soll helfen, belastende und „falsche“ Gedankenmuster aufzubrechen und durch realistischere zu ersetzen. Daneben gibt es andere Elemente wie das soziale Kompetenztraining, bei dem etwa Rollenspiele begleitet von Videoaufnahmen stattfinden. So wird die Bewältigung von schwierigen Situationen geübt. Zugleich lernt der Patient, die Angst zu ertragen, indem er sich begleitet von seinem Therapeuten beängstigenden Situationen aussetzt. Bei dieser „Exposition“ erfährt er auch, dass es nicht dramatisch sondern verbreitet ist, rot zu werden oder weiche Knie zu bekommen. Und die Patienten lernen, dass ihnen zu viel Selbstaufmerksamkeit gar nicht immer gut tut.
GPSP: Was einmal falsch gelernt wurde, wird also langsam bewusst gemacht und umgelernt.
Biermann: So könnte man das ausdrücken.
GPSP: Welche Rolle spielt die Umwelt oder die Familie, in die man hineingeboren wird?
Biermann: Beides hat natürlich seine Bedeutung. Das psychodynamische Erklärungsmodell berücksichtigt zum Beispiel den Erziehungsstil: Wenn Eltern immer ängstlich sind und ihr Kind zur Vorsicht rufen, dann ist das ein angstinduzierender Erziehungsstil, der dazu führen kann, dass dieses Kind später eine Angststörung entwickelt. Mütter, die sich permanent Sorgen machen – möglicherweise dadurch ausgelöst, dass sie ein chronisch krankes Kind haben –, entwickeln auch selbst eher eine Angststörung, die generalisierte Angststörung. Man nennt sie auch die Sorgenkrankheit.
GPSP: Wie macht sie sich bemerkbar?
Biermann: Der Alltag ist sozusagen von Sorgen bestimmt, man grübelt ständig darüber, ob es den Kindern gut geht, die Eltern gesund sind, der Arzt der richtige ist, im Urlaub die Sonne scheinen wird … Das führt zu dauerhafter Anspannung. Typische körperliche Symptome sind Nackenverspannungen, selbst ein Magengeschwür kann entstehen. Und zunehmend kann man eine ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstruktur entwickeln.
GPSP: Kommt man da wieder raus?
Biermann: Vielen Betroffenen können wir mit kognitiver Verhaltenstherapie2 helfen. Da übt man zum Beispiel, zwischen realistischen Sorgen und unrealistischen zu unterscheiden. Die realistischen, also aktuelle Probleme, muss man schrittweise angehen. Aber die unrealistischen, die es – wie das miese Urlaubswetter im nächsten Sommer – noch gar nicht gibt, denen muss man mit „Stopptechniken“ begegnen. Verhaltenstherapie hilft solche Gedanken abzubrechen, sozusagen sich über ungelegte Eier keine Gedanken zu machen. Wie bei den Phobien sollen sich Patienten aber auch den schlimmsten vorstellbaren Sorgen oder Ängsten stellen. Wir nennen das „Sorgenexposition“.
GPSP: Wie hält man das aus?
Biermann: Wir lassen Angstpatienten ja nicht alleine, sondern bereiten sie vor und begleiten sie. Es gibt natürlich auch weniger belastende Übungen.
GPSP: Zum Beispiel?
Biermann: Regelmäßiges Aus- und Einatmen oder die so genannte Lippenbremse – ein Ausatmen durch den gespitzten Mund. Das kann bei Panikattacken helfen, erfordert aber ein wenig Übung. Aus der Achtsamkeitsforschung kommt eine Frage, die sich selbst zu stellen bei generalisierter Angststörung oft sehr hilfreich ist: „Habe ich hier und jetzt eigentlich Sorgen?“ Denn viele Ängste beziehen sich ja auf das, was möglicherweise irgendwann passieren könnte und gar nicht muss …
GPSP: … und diese „falschen“ Sorgen werden sozusagen aussortiert und Grübeln wird verhindert. Da kann vermutlich jeder von lernen.
Biermann: Sicher, denn Angst zu haben, das ist normal und Teil unserer Biologie. Ein Zuviel an Stress und Sorgen, dass erlebt jeder mal, und es ist gut, wenn er dann auf einfache Atem- und Entspannungstechniken oder die Stopptechnik gegen Grübeln zurückgreifen kann. Bei Angststörungen ist die Angst aber unbeherrschbar. Man verliert Sicherheit und Kontrolle über sein Leben. Da ist professionelle Hilfe nötig.
GPSP: Spielen auch Psychopharmaka eine Rolle?
Biermann: Selbstverständlich, aber das ist ein eigenes Kapitel.*
GPSP: Oft dauert es Jahre, bis man professionelle Hilfe sucht. Könnten hier Angehörige oder gute Freunde helfen?
Biermann: Sicher. Wir beobachten immer wieder, dass Angehörige all die Techniken oder „Tricks“ unterstützen, die Betroffene anwenden, um ihre Ängste zu verbergen. Der Ehemann geht einkaufen, weil seine Frau aus Angst vor Panikattacken das nicht mag. Die Ehefrau fährt ihren Mann zur Arbeit, weil der sich nicht in öffentliche Verkehrsmittel traut. Es wäre viel besser, wenn Angehörige darauf hinwirken, dass Überängstliche Hilfe suchen. So wie der 11-jährige Sohn, der mit seiner Mutter in unsere Ambulanz kam, weil sie alleine überhaupt nicht mehr aus dem Haus ging.
GPSP: Frau Biermann, vielen Dank für das Gespräch.
Stand: 1. Februar 2013 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 01/2013 / S.19