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Die Schattenseiten des Vitamin D-Papstes

Über die Erfindung eines Gesundheitsproblems

Um Vitamin D hat sich in den letzten Jahren – trotz fehlender wissenschaftlicher Belege – weltweit ein regelrechter Hype entwickelt. Eine wichtige Rolle spielt dabei der US-amerikanische Arzt Michael Holick. Ein Artikel in der New York Times skizziert den Aufstieg des „Vitamin D-Papstes“.1

@ Thomas Kunz

Bei einigen Krankheiten ist der Nutzen von Vitamin D wissenschaftlich gut belegt: bei Rachitis und Osteomalazie sowie in Kombination mit Calcium bei bestimmten Patientengruppen mit Osteoporose.2

Für andere Erkrankungen lässt sich jedoch trotz intensiver Forschung keine vorbeugende Wirkung von Vitamin D feststellen. Das gilt sowohl für Krebs 3,4 als auch für Herz-Kreislauf-Erkrankungen 5 oder dadurch bedingte Todesfälle.6 Diese Ergebnisse wur­den im November 2018 durch eine gut gemachte, große ran­domisierte Studie bestätigt: Vita­min D kann weder Krebs noch Herz-Kreislauf-Erkrankun­gen verhindern.7

Wie kommt es dann, dass trotz fehlender Belege für einen Nutzen Vitamin D als wahres Wundermittel gilt? Wer etwa mit einer Suchmaschine „Vitamin D-Mangel“ sucht, erhält 680.000 Treffer. Und allein in deutschen Apotheken wurden 2017 Vitamin D-Präparate für 177 Millionen Euro verkauft. Dazu kommen zahllose freiverkäufliche Vitamin D-Produkte in Drogerien und Supermärkten.

Dinos statt harter Tatsachen

Bei näherer Betrachtung entpuppt sich die Angelegenheit als Lehrstück dafür, wie man aus dünnen Fakten viel Geld heraus­schlagen kann. In zahllosen populärwissenschaftlichen Artikeln, und in einem Buch behauptet Holick, die meisten Menschen hätten zu wenig Vitamin D und würden deshalb häufiger krank. Er verstieg sich sogar zu der These, dass die Dinosaurier unter anderem wegen Vitamin D-Mangels ausgestorben seien.

Bei vielen Menschen stieß das auf offene Ohren: Der Umsatz von Vitamin D-Ergänzungsmitteln in den USA hat sich in einer Dekade verneunfacht. Und die Ärztinnen und Ärzte testeten fleißig auf Vitamin D-Mangel.

Diese Entwicklung kann nicht an fehlendem Wissen liegen: Bereits 2011 hatte das angesehene US-Institute of Medicine (IoM) einen langen Bericht über den vermeintlichen Vitamin D-Mangel veröffentlicht.8 Quintessenz: Die meisten Menschen bekommen über Sonnenlicht und Nahrung reichlich von dem Vitamin, und eine Testung ist nur bei hohem Risiko für einen Mangel sinnvoll. Das sind vor allem gebrechliche ältere Menschen, die in Heimen leben und nur selten nach draußen kommen.

Leidlinie statt Leitlinie?

Allerdings nutzte der „Vitamin D-Papst“ geschickt seinen Einfluss unter den ärztlichen Kollegen: So leitete er eine Arbeitsgruppe der Endocrine Society – einer medizinischen Fachgesellschaft für hormonell bedingte Erkrankungen – zu Vitamin D. Ihre Leitlinien werden von zahllosen Krankenhäusern, Ärzten und Labors befolgt. Die Fachgesellschaft akzeptierte ohne Einwände Holicks Einschätzung, dass „Vitamin D-Mangel in allen Altersgruppen sehr verbreitet ist“.

Anders als das erwähnte IoM, das 20 Nanogramm 25-Hydroxyvitamin D pro Milliliter Blut als ausreichend erachtete, setzte die Endocrine Society den Wert auf 30 Nanogramm hoch. Das IoM sah das mit Sorge, denn durch das Anheben des Grenzwerts wurden 80% der US-Bevölkerung potenziell zu Kranken. In einem Kommentar dazu hieß es: „Wir sehen, dass ständig Leute getestet und anschließend behandelt werden. Die Basis dafür ist eine gute Portion Wunschdenken, dass man ein Nahrungsergänzungsmittel einnehmen kann, um dadurch gesünder zu werden.“1

Mit Vitamin D-Tests lässt sich eine Menge Geld verdienen. Sie kosten in den USA zwischen 40 und 225 US-Dollar. Auch Holick verdient an diesem Geschäft. Er bekommt seit 40 Jahren Geld von Quest, einem führenden Anbieter von Vitamin D-Tests – gegenwärtig 1.000 US-Dollar im Monat. Seiner Meinung nach beeinflusst das sein Urteil nicht: „Ich bekomme nicht mehr Geld, ob sie einen oder eine Milliarde Tests verkaufen.“1 Die Branche dankt ihm sein Engagement jedenfalls mit fürstlichen Honoraren. Von 2013 bis 2017 erhielt Holick insgesamt fast 163.000 US-Dollar von Pharmafirmen.

Studio statt Sonne

Holick propagiert, sich der Sonne auszusetzen, und das möglichst viel, da er ja sehr hohe 25-Hydroxyvitamin D-Spiegel im Körper für nötig hält. Was er nicht erwähnt: Zwar ist Sonnenlicht für die Vitamin D-Produktion in der Haut notwendig, aber man sollte wegen des Hautkrebsrisikos Augenmaß walten lassen. Deshalb ist seine Empfehlung Sonnenstudios als Vitamin D-Quelle zweischneidig, wenn auch lukrativ: Eine Lobbyeinrichtung der Sonnenbank-Industrie spendete der Universität Boston von 2004 bis 2006 150.000 US-Dollar. Verwendungszweck: die Forschung von Dr. Holick.

Holicks Werbefeldzug für Vitamin D wurde von der Wellness-Industrie begierig aufgegriffen. Der in den USA sehr populäre TV-Doktor Dr. Oz schreibt dem Vitamin Wunderwirkungen zu. Es helfe gegen Herzkrankheiten, Depressionen, Vergesslichkeit und Krebs. Auch die weltweit bekannte US-Talkshow-Modera­torin Oprah Winfrey wirkt als Propagandistin: „Wenn du deinen Vitamin D-Spiegel kennst, kann das dein Leben retten.“

Was die Prominenten nicht erwähnen: Bereits 2015 warnte eine von der US-amerikanischen Behörde für Gesundheitsfor­schung (National Institutes of Health) einberufene Experten­konferenz vor ernsten Gesundheitsschäden durch zu hohe Vitamin D-Dosen. Bereits ein Spiegel von 50 Nanogramm wurde als möglicherweise gefährlich bezeichnet.9 Diese Menge liegt aber im Bereich der noch immer gültigen Empfehlung der Endocrine Society-Leitlinie.

Eine positive Entwicklung der letzten Jahre: Heute könnte Holick nicht mehr Vorsitzender der Leitliniengruppe bei der Endocrine Society werden, denn diese hat inzwischen ihre Regeln für Interessenkonflikte verschärft.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 02/2019 / S.12