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© GrigoryLugovoy iStock

Wie sinnvoll sind ergänzende bilanzierte Diäten?

Warum viele der Spezial-Lebensmittel für Kranke umstritten sind

Ist das noch ein Lebensmittel oder schon ein Arzneimittel? Bei ergänzenden bilanzierten Diäten ist der Unterschied für Verbraucher:innen nicht immer gut erkennbar.

Auf dem Etikett steht „zum Diätmanagement bei Arthrose“ oder „zum Diätmanagement bei altersbedingter Makuladegeneration“. In den Kapseln oder Tabletten stecken zum Beispiel Vitamine oder Stoffe wie Glucosamin oder Lutein. Was für Verbraucher:innen nicht auf den ersten Blick klar ist: Solche Produkte sind keine Arzneimittel, sondern rechtlich gesehen Lebensmittel. Darf auf ihrer Packung dann eine Krankheit genannt sein?

Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke

Ja, darf sie tatsächlich. Denn bei diesen Produkten handelt es sich nicht um Nahrungsergänzungsmittel – diese dürfen nämlich auf ihrem Etikett keine Krankheit angeben. Das Lebensmittelrecht kennt aber noch eine weitere Kategorie: Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke, auch ergänzende bilanzierte Diäten (ebD) genannt. Es sind Spezial-Lebensmittel, die für Patient:innen bestimmt sind und deshalb den Hinweis auf eine Krankheit auf dem Etikett sogar tragen müssen.

Die Idee dahinter: Bei einigen Krankheiten ist eine ausreichende Ernährung mit normalen Lebensmitteln schwierig, manchmal sogar unmöglich. Dazu gehören etwa Erkrankungen, bei denen Schluckbeschwerden auftreten oder bei denen die Aufnahme von Nährstoffen beeinträchtigt ist. Oder Stoffwechselkrankheiten, bei denen Betroffene zusätzlich bestimmte Nährstoffe benötigen.

Wer die Produkte braucht

Bei diesen Lebensmitteln gibt es zwei Kategorien: Zum einen „vollständig bilanzierte Diäten“, die als alleinige Nahrungsquelle dienen. Dazu gehören etwa Trink- und Sondennahrungen für Pflegebedürftige, die keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen können. Zum anderen gibt es „ergänzende bilanzierte Diäten“. Sie kommen meist in Form von Kapseln oder Trinkampullen auf dem Markt und liefern nur ausgewählte Nährstoffe. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie Nahrungsergänzungsmittel – bloß, dass sie sich an Patient:innen richten und nicht an Gesunde.

Zweifelsfrei sinnvolle ebD sind etwa Mischungen bestimmter Eiweißbestandteile (Aminosäuren) für Menschen mit der Stoffwechselkrankheit Phenylketonurie, die normales Eiweiß aus der Nahrung nicht vertragen. Oder hochdosierte Vitaminpräparate für Menschen mit einem Kurzdarmsyndrom, bei denen die Vitaminmengen in normalen Lebensmitteln wegen einer verringerten Aufnahme im Darm nicht ausreichen.

Theoretisch: Umfassend reguliert

Die Anforderungen an ebD sind auf dem Papier streng geregelt: Ihre Zusammensetzung muss auf vernünftigen medizinischen und diätetischen Grundsätzen beruhen. Und sie müssen nachgewiesen wirksam und nutzbringend für ihre Zielgruppe sein. Das heißt: Eine ebD muss einen spezifischen Nährstoffbedarf, der aufgrund einer festgestellten Krank­heit oder Störung besteht, decken können. Dabei geht es also keineswegs um die Behandlung oder Heilung der benannten Krankheit, sondern allein um eine ausreichende Ernährung.

Praktisch: Wildwuchs auf dem Markt

Soweit die Theorie. Doch der Markt geht schon seit Jahren eigene Wege. Ein Grund: Die Anbieter müssen die ebD vor ihrem ersten Inverkehrbringen in Deutschland lediglich beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit anzeigen – eine Zulassungspflicht wie bei Arzneimitteln gibt es nicht. Ob ein Produkt also tatsächlich eine zulässige ebD ist, wird nur geprüft, wenn eine Aufsichtsbehörde darauf aufmerksam wird, etwa bei einer Routinestichprobe oder Verbraucherbeschwerde.

Für Anbieter ist die Vermarktung als ebD ziemlich attraktiv: Anders als bei Nahrungsergänzungsmitteln ist die Angabe einer Krankheit auf der Packung zulässig. Gleichzeitig sind die Anforderungen deutlich niedriger als bei Arzneimitteln, denn ebD brauchen keine aufwendige Zulassung. Vielen Verbraucher:innen dürfte der Unterschied zwischen ebD und Arzneimitteln nicht geläufig sein, auch wenn formal das Wort „Diätmanagement“ auf der Packung steht. Diese Umstände sorgen dafür, dass es neben sinnvollen ebD in dieser Kategorie auch viele eher zweifelhafte Produkte gibt.

Attraktives Schlupfloch

Zum Beispiel ebD mit Glucosamin „zum Diätmanagement bei arthrotischen Gelenkveränderungen“: Glucosamin ist ein körpereigener Stoff, der am Aufbau von Gelenkknorpel beteiligt ist. Es gibt Glucosamin-haltige Arzneimittel, die für Arthrose zugelassen sind – doch auch schon deren Nutzen ist äußerst umstritten. Nahrungsergänzungsmittel warben lange Zeit mit Gelenkgesundheit, bis solche gesundheitsbezogenen Aussagen (Health Claims) vor gut 10 Jahren verboten wurden.1

Bei anderen ebD erscheint es fraglich, ob ihre Rezeptur auf vernünftigen medizinischen und diätetischen Grundsätzen beruht, etwa bei den Produkten „zum Diätmanagement bei fortgeschrittener altersbedingter Makuladegeneration“. Ein Produktvergleich unterschiedlicher Hersteller offenbart: Die jeweiligen Dosierungen der Einzelsubstanzen unterscheiden sich deutlich – trotz gleicher Zielgruppe.

Was ist „besonderer medizinischer Bedarf“?

Wie kann es zu diesem Wildwuchs kommen? Ein Problem: Die weit gefasste Definition von ebD im Gesetz. Danach sind unter anderem Produkte zulässig, die einen „sonstigen besonderen medizinischen Nährstoffbedarf“ ihrer Zielgruppe bedienen.

Was heißt das genau? Das ist immer wieder Anlass für Rechtsstreitigkeiten. Derzeit gilt in Deutschland ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) aus dem Jahr 2008 als maßgeblich: Danach gilt ein Nährstoffbedarf bereits dann als medizinisch bedingt, wenn Patient:innen aus der kontrollierten Aufnahme bestimmter Nährstoffe einen Nutzen ziehen können. Andere Urteile sehen das jedoch kritisch, denn dadurch bekämen ebD quasi den Status von „kleinen Arzneimitteln“. Die Idee von ebD ist aber eigentlich eine andere: Hier geht es allein darum, einen besonderen medizinischen Nährstoffbedarf zu bedienen – und eben nicht um sonstige positive Effekte. Anders ausgedrückt: Nach der engeren Auffassung wäre ein Nährstoffbedarf nur dann medizinisch bedingt, wenn er die Folge einer diagnostizierten spezifischen Krankheit ist, etwa wie beschrieben die Störung der Nährstoffaufnahme bei einem verkürzten Darm.2

Aussicht auf Marktbereinigung?

Wenn sich dieses engere Begriffsverständnis durchsetzt, hätte dies Folgen für den Markt. Produkte „zum Diätmanagement bei altersbedingter Makuladegeneration (AMD)“ zum Beispiel würden dann automatisch ihre Daseinsgrundlage verlieren. Auch dann, wenn es vor Gericht wahrscheinlich ein Leichtes wäre, anhand der Studienlage einen gewissen Nutzen der Präparate zu begründen. Denn viele Hersteller stützen sich auf die AREDS-Rezeptur, nach der eine tägliche Zufuhr definierter Mengen an Vitamin C und E, Lutein und Zeaxanthin sowie Zink und Kupfer das Fortschreiten einer AMD möglicherweise etwas verlangsamen kann. Die Studienlage lässt aber nicht den Schluss zu, dass eine AMD durch einen Mangel an diesen Nährstoffen entsteht oder es in Folge einer AMD schwierig wäre, den Bedarf an diesen Nährstoffen zu decken. Ein besonderer medizinischer Nährstoffbedarf ist damit also nicht gegeben – und die Produkte wären dann als ebD eigentlich nicht verkehrsfähig.

Eine solche Argumentation vertreten mittlerweile einige Ober­landesgerichte in Deutschland. Eins davon hat sich nun an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) gewandt.3 Er soll entscheiden, was mit dem „sonstigen besonderen medizinischen Nährstoffbedarf“ wirklich gemeint ist: dass die Zufuhr Patient:innen irgendwie nützlich ist, wie der BGH meint – oder, dass tatsächlich ein krankheitsbedingtes Nährstoffdefizit besteht. Wenn der EuGH diese Auffassung bestätigen sollte, könnten bald viele zweifelhafte Gesundheitsprodukte, die unter dem Deckmantel der ebD vertrieben werden, vom Markt verschwinden.

 

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 03/2022 / S.25