Schluss mit dem Minutentakt
Was bringt die Pflegereform 2017?
Mehr als zehn Jahre lang wurde um ihn gerungen. Jetzt endlich kommt der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff. Davon profitieren vor allem Demenzkranke und andere Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen. Doch bei jeder Reform gibt es neben Gewinnern auch Verlierer. Und für die Beitragszahler wird es noch einmal teurer.
Am 1. Januar 2017 trat die zweite Stufe des so genannten Pflegestärkungsgesetzes in Kraft. Während die erste Stufe, die seit Anfang 2016 gilt, nur leichte Verbesserungen brachte, ändert sich das deutsche Pflegesystem jetzt fundamental.
Die Gewinner
Früher galten nur Menschen mit körperlichen Einschränkungen als pflegebedürftig und hatten damit Anspruch auf Gelder der Pflegeversicherung. All diejenigen, die sich zwar noch selbst anziehen und für sich kochen konnten, dabei aber beaufsichtigt werden mussten, bekamen nur Basisleistungen, etwa ein viel geringeres Pflegegeld oder niedrige Pflegesachleistungen. Das war vor allem für Demenzkranke und ihre Angehörigen ein erheblicher Nachteil: wenig Geld, also wenig Unterstützung. Jetzt erhalten Menschen mit kognitiven und psychischen Einschränkungen mehr Unterstützung. Denn künftig zählt, wie selbstständig ein Mensch seinen Alltag bewältigen kann. Benötigt er Hilfen – und dabei ist es egal, ob er beim Gehen gestützt werden muss oder sich nicht orientieren kann –, bekommt er Geld von der Pflegeversicherung. Das nützt vielen.
Bei der Reform gilt der Grundsatz: Niemand soll durch sie schlechter gestellt werden. Pflegebedürftige, die bereits Leistungen der Pflegeversicherung beziehen, erhalten diese auch weiterhin in mindestens demselben Umfang. Sie müssen keine neuen Anträge stellen, sondern ihre Ansprüche werden automatisch in das neue System überführt. Da fast alle Leistungen steigen, bekommen viele Pflegebedürftige damit automatisch mehr Geld.
Die Verlierer
Mit der Reform wird einerseits die häusliche Pflege gestärkt. Andererseits bekommen Menschen mit einem niedrigen Pflegegrad (siehe Kasten: Grad statt Stufe) künftig geringere Zuschüsse, sofern sie in einem Heim gepflegt werden. Wer also nach dem 1. Januar 2017 von zu Hause in ein Pflegeheim wechselt, steht unter Umständen schlechter da als im alten System. Hinzu kommt, dass der Eigenanteil, den Pflegebedürftige in einem Pflegeheim zahlen müssen, künftig nicht mehr mit dem Pflegebedarf steigt, sondern für alle Pflegegrade gleich bleibt. Dadurch können die Bewohner besser mit den Kosten planen. Das ist von Vorteil. Der Nachteil: In den niedrigen Pflegegraden wird der Eigenanteil mit hoher Wahrscheinlichkeit steigen.
Künftig ist es für Menschen mit kognitiven und psychischen Einschränkungen viel einfacher, als pflegebedürftig anerkannt zu werden. Das Gesetz führt andererseits dazu: Wer rein körperlich beeinträchtigt ist, hat es in Zukunft schwerer, einen hohen Pflegegrad und damit umfangreiche Leistungen der Pflegeversicherung zu bekommen. Denn das neue Begutachtungssystem berücksichtigt neben den körperlichen stärker auch die kognitiven und psychischen Einschränkungen.
Die Begutachtung
Um festzustellen, ob jemand pflegebedürftig ist, gibt es die Begutachtung. Speziell ausgebildete Ärztinnen und Ärzte oder Pflegefachkräfte schätzen bei einem Hausbesuch ein, wie hoch der Pflegebedarf eines Antragstellers ist. Im alten System wurde so der Zeitaufwand für die tägliche Pflege ermittelt. Daraus errechnete sich die Pflegestufe. Dieses System stand lange in der Kritik, weil sich gute Pflege nicht in Minuten darstellen lässt.
Künftig prüfen die Gutachter, welche Fähigkeiten eine Person hat beziehungsweise nicht hat und ob sie auf Hilfe angewiesen ist. Wie selbstständig kann sie sich anziehen und in der Wohnung bewegen? Erkennt sie Gefahren, und ist sie in der Lage, ihren Tag zu strukturieren? Kann sie sich orientieren und ihre Medikamente einnehmen? Solche Fragen stehen im Mittelpunkt.
Insgesamt muss der Gutachter in acht Lebensbereichen 64 einzelne Fähigkeiten abfragen und einschätzen, wie hoch der Hilfebedarf ist. Dafür vergibt er Punkte von „selbstständig“ bis „unselbstständig“. Je höher die Punktzahl, desto höher der Pflegegrad. Maximal gibt es 100 Punkte. Ab 12,5 Punkten liegt eine „geringe Einschränkung der Selbstständigkeit“ vor, das entspricht Pflegegrad 1. Wer weniger als 12,5 Punkte erreicht, gilt als nicht pflegebedürftig und bekommt kein Geld aus der Pflegeversicherung. Das war früher schon so und hat sich nicht geändert.
Leichterer Zugang zu Hilfsmitteln
Der Gutachter soll im Rahmen der Begutachtung außerdem Empfehlungen für Hilfsmittel wie einen Rollator oder ein Pflegebett geben. Stimmt der Pflegebedürftige zu, gilt diese Empfehlung gleich als Antrag auf Gewährung. Die Kranken- oder Pflegekassen sollen diesen Antrag inhaltlich nicht noch einmal prüfen. Empfiehlt der Gutachter ein Hilfsmittel, sind die Chancen also sehr gut, es tatsächlich zu erhalten. Es kann sich daher lohnen, ihn gezielt auf bestimmte Hilfsmittel anzusprechen.
So profitieren pflegende Angehörige
Mehr als zwei Drittel aller Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt, oft übernehmen die Angehörigen die komplette Pflege. Das kann enorm anstrengend sein, und deshalb sollen pflegende Angehörige mehr Unterstützung bekommen: finanziell und praktisch.
Pflegende Angehörige
• haben künftig einen Anspruch auf Beratung bei der Pflegekasse. Solche Beratungsgespräche, zu denen der Pflegebedürftige zustimmen muss, gab es allerdings auch bisher schon.
• können den Entlastungsbetrag von 125 Euro (siehe Tabelle) dafür nutzen, selbst Hilfe zu bekommen. Normalerweise stehen die Leistungen der Pflegeversicherung nur dem Pflegebedürftigen zu.
• sind jetzt in den meisten Fällen in der Arbeitslosenversicherung pflichtversichert, wenn sie ihren Beruf für die Pflege unterbrechen. Die Beiträge zahlt die Pflegekasse. Damit haben sie Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Maßnahmen zur Arbeitsförderung, wenn ihnen die Rückkehr in den Job nicht nahtlos gelingt.
• erwerben Rentenansprüche. Die Beiträge zahlt die Pflegekasse.
Beiträge steigen
All diese Änderungen kosten Geld. Um die Reform zu finanzieren, steigt der Beitrag zur Pflegeversicherung noch einmal: Anfang 2016 hatte er sich bereits um 0,3 Prozentpunkte erhöht, ab 1.1.2017 steigt er um 0,2 Prozentpunkte auf 2,55% bzw. 2,8% für Kinderlose.
Stand: 3. Januar 2017 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 01/2017 / S.12