Ausspucken verboten!
Die Geschichte der Tuberkulose führt zu den Grenzen der Medizin
Kennen Sie den „Blauen Heinrich“, ein Glasfläschchen, das man bequem in die Tasche des Gehrocks stecken konnte? Damit sollte zu Zeiten unserer Vorväter und Vormütter die Verbreitung der Lungentuberkulose eingedämmt werden: Statt auf den Boden zu spucken, benutzte man Gefäße wie dieses. Die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts allgegenwärtige Tuberkulose spielt heute in Deutschland kaum noch eine Rolle. In vielen Ländern ist sie jedoch weiterhin ein großes medizinisches Problem. Ein Blick zurück hilft uns zu verstehen, woran das liegt.
Tuberkulose gibt es schon seit sehr langer Zeit. Man vermutet, dass im alten Ägypten die Hälfte der Bevölkerung vom Mycobacterium tuberculosis befallen war.1 So hat man in 5.000 Jahre alten Mumien Tuberkulose (TB) nachweisen können.2
In Europa wütete die Schwindsucht, wie man die Krankheit wegen des körperlichen Verfalls nannte, ab dem 18. Jahrhundert besonders schlimm. Vor allem die produktive Bevölkerung war betroffen: Um 1880 ging in Deutschland jeder zweite Todesfall bei den 15- bis 40-Jährigen auf das Konto der Infektionskrankheit.
Mangelernährung, beengte Wohnverhältnisse, ausbeuterische Arbeitsbedingungen und schließlich der 1. Weltkrieg hatten ihren Anteil daran, dass sich die Lungentuberkulose (siehe Kasten) massiv ausbreitete.3 Vor allem in den armen Bevölkerungsschichten. Denn die Tuberkulose ist immer dort besonders verbreitet, wo Menschen unter schlechten sozialen Bedingungen leben müssen und schlecht ernährt sind. Das ist bis heute so.
Spucken verboten
Wer sich ansteckte, wusste nicht, was ihm bevorstand. Die Krankheit schlummerte manchmal jahrelang im Körper und wartete auf den passenden Moment, um auszubrechen (siehe Kasten). Wer erkrankte, musste damit rechnen, an der Tuberkulose zu sterben, oft erst nach einem langen Martyrium, in dem er unter schlimmsten Hustenanfällen mit Auswurf litt. Die Sitte, einfach auf den Boden zu spucken, die damals gang und gäbe war, kam dabei in Verruf. Der Blaue Heinrich als Spucknapf sollte die Ansteckungsgefahr verringern.
Krankheit der Armut
Als Robert Koch 1882 den Tuberkulose-Erreger entdeckte, schöpfte man Hoffnung, die Schwindsucht in ihre Schranken weisen zu können. Aber den erhofften Durchbruch brachte das noch nicht. Das von Koch entwickelte „Tuberkulin“ – ein aus Bakterien hergestelltes Eiweiß – war als Heilmittel wirkungslos und sogar gefährlich.
Die Behandlung bestand vor allem in der berühmten Liegetherapie. Thomas Mann beschrieb in seinem Roman „Der Zauberberg“ eindrücklich, was das für die Kranken bedeutete. Seine Romanfiguren waren über Monate in einer Heilanstalt vor der idyllischen Bergkulisse der Schweizer Alpen isoliert. In der Anstalt verbrachten sie die meiste Zeit damit, in Liegestühlen auf Balkonen, warm zugedeckt, möglichst in der Sonne auf Besserung zu warten. Die teuren Kuraufenthalte waren anfangs hauptsächlich der reichen Oberschicht vorbehalten. Da aber besonders die arme Arbeiterklasse betroffen war, wurde Ende des 19. Jahrhunderts in ganz Deutschland mit dem Bau von Heilanstalten für die breite Bevölkerung begonnen.
Heilanstalten für Arbeiter
Ein wesentlicher Schritt hierbei war die Einführung der Sozialversicherung durch Reichskanzler Otto von Bismarck im Jahr 1881, die bald auch für Kosten der Kur in einer Heilanstalt aufkam. Er hatte erkannt, dass die Arbeitsbedingungen, die mit der industriellen Revolution Einzug hielten, die Tuberkulose-Zahlen wieder in die Höhe schnellen ließen, nachdem sie Mitte des 19. Jahrhunderts rückläufig gewesen waren. Die Menschen lebten aus Not eingepfercht in dunklen, feuchten, kleinen Stadtwohnungen (z.B. beim „Trockenwohnen“) – nicht selten über zehn Personen in einem Zimmer – und arbeiteten bis zu 16 Stunden am Tag. Viele atmeten dabei die Abgase der Maschinen ein, an denen sie die immer gleichen Handgriffe tätigen mussten. Zu essen gab es meist nur Kartoffeln und Hering, manchmal billiges Pferdefleisch.2 Ihre geschwächten Körper waren so für das Tuberkel-Bakterium leichte Beute. Die Heilanstalten boten nicht nur frische Luft, sondern auch eine bessere Ernährung. Aber grundlegend heilen konnte man die TB immer noch nicht.
So lange es keine effektive Therapie gab, versuchten die meisten europäischen Staaten, durch Meldepflicht und Verbrennung des Hab und Guts der Erkrankten die Tuberkulose einzudämmen. 1943 entdeckte man, dass das Antibiotikum Streptomycin half, die Tuberkulose zu heilen. Heutzutage gibt es eine ausgefeilte antibiotische Kombinationstherapie, die im Regelfall ein halbes Jahr durchgehalten werden muss und die den meisten Erkrankten hilft – wenn auch mit teils starken Nebenwirkungen.
Immer noch ein Problem
Heute stirbt weltweit immer noch alle 24 Sekunden ein Mensch an Tuberkulose – und zwar vor allem in Entwicklungsländern.4 Die Ursachen dafür sind dieselben wie im Europa des 19. Jahrhunderts: Armut, Mangelernährung, schlechte Lebensbedingungen, Krieg und neuerdings die HIV-Infektion. Der medizinische Fortschritt kommt gegen die sozialen Missstände nicht an. Vielen Ländern fehlen auch schlicht die finanziellen Mittel für die langwierige Therapie. Außerdem sind resistente Tuberkulose-Erreger ein zunehmendes Problem. Das liegt vor allem an völlig unzureichenden Gesundheitsetats dieser Länder, aber auch an einer Lücke in der Forschungsfinanzierung: Es fehlen 1,3 Milliarden US-Dollar für die Entwicklung neuer Antibiotika.5 Immerhin haben die G20-Staaten beim Gipfel 2017 beschlossen, eine Forschungsplattform einzurichten.6 Man will bei der Forschung international enger zusammenarbeiten.
Tuberkulose
GPSP 5/2015, S. 19
Resistente TB
GPSP 5/2016, S. 8
Stand: 27. Dezember 2018 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 01/2019 / S.22