Tücken des Screenings
In Ruhe abwägen
Früh erkannt, früh gebannt – was sich intuitiv richtig anhört, kann bei der Krebsfrüherkennung zu Fehlschlüssen führen. Nicht immer führt sie zu schonenderen Therapien oder rettet gar Leben. Und ein solches Screening hat durchaus Risiken und Nebenwirkungen, die man kennen sollte. Zu dieser Problematik haben wir Klaus Koch vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen befragt.
GPSP: In den letzten Jahren ist die Euphorie über die Krebsfrüherkennung deutlich zurückgegangen. Woran liegt das?
Klaus Koch: Weil heute viel offener als früher darüber gesprochen und berichtet wird, dass Früherkennung diese Versprechungen nur bei wenigen Krebsarten einhält. Eine ideale Früherkennungsmethode wäre selbst völlig harmlos und würde einen gefährlichen Krebs so zuverlässig und früh erkennen, dass er geheilt werden kann. Diese ideale Methode gibt es aber nicht. Alle heute eingesetzten Untersuchungen machen Fehler, andere entdecken nebenbei auch Krankheiten, die nie hätten entdeckt werden müssen. Ein Befund, der nur verunsichert. Kurz: Früherkennung hat Vor- und Nachteile.
Was müssen Patientinnen und Patienten über die Vorteile wissen?
Wichtig ist, ob überhaupt ein Nutzen nachgewiesen ist. Denn nur wenige Krebs-Früherkennungsuntersuchungen verringern nachweislich das Risiko, an der gesuchten Krebsart zu sterben. Glücklicherweise ist das Risiko, an Brust-, Darm- oder Prostatakrebs zu sterben aber auch ohne Früherkennung nicht allzu hoch. Zum Beispiel würden ohne Früherkennung von 1.000 sechzigjährigen Frauen etwa 7 in den nächsten 10 Jahren an Brustkrebs sterben – die übrigen 993 können also durch das Screening sowieso nicht „gerettet“ werden. Sie könnten aber Nachteile durch ihre Teilnahme haben.
Womit muss man denn rechnen?
Da ist zuerst einmal die Belastung durch die Untersuchung selbst. Bei der Röntgenuntersuchung zur Brustkrebs-Früherkennung – also dem Mammografie-Screening – wird die Brust zwischen zwei Platten gedrückt. Das empfinden viele Frauen als unangenehm oder schmerzhaft. Auch das Abführen vor einer Darmspiegelung kann belasten.
Kann die Untersuchung auch Schaden anrichten?
Ja, beispielsweise durch Röntgenstrahlen. Bei regelmäßiger Teilnahme am Mammografie-Screening entsteht möglicherweise bei 1 von 1.000 Frauen dadurch Brustkrebs. Beim Darmkrebs-Screening kommt es bei 1 von 1.000 Darmspiegelungen zu Blutungen, die im Krankenhaus behandelt werden müssen. Schwerwiegende Komplikationen wie einen Darmdurchbruch gibt es schätzungsweise bei 2 von 10.000 Darmspiegelungen. Solche Risiken sind in der Regel also relativ klein.
Die gesetzliche Krankenversicherung bezahlt mehrere Untersuchungen zur Früherkennung von Krebs. Derzeit ist allerdings nur das Mammografie-Screening auf Brustkrebs mit einem Einladungsschreiben und Vorschriften zur Qualitätssicherung organisiert. Künftig soll auch die Früherkennung von Darmkrebs und Gebärmutterhalskrebs so organisiert werden.Zu diesen Programmen entwickelt das IQWiG im Auftrag des G-BA Entscheidungshilfen. Der G-BA legt später die endgültigen Versionen fest. Diese werden schließlich per Post an alle verschickt, die für die Teilnahme in Frage kommen.Wichtig zu wissen: Früherkennung bedeutet nicht „Vorsorge“ – oft lässt sich eine Krebserkrankung durch Teilnahme an der Untersuchung nicht verhindern.
Gibt es weitere Risiken bei der Früherkennung?
Wesentlich bedeutsamer sind die Nachteile, die sich aus den Ergebnissen der Untersuchung ergeben. Wer zur Krebsfrüherkennung geht, möchte sich ja am liebsten bescheinigen lassen, dass alles in Ordnung ist. Bleibt die Untersuchung ohne Hinweise auf Krebs, ist man beruhigt – wenn auch nicht immer zu Recht. Es kann nämlich sein, dass die Früherkennung falsche Ergebnisse liefert.
Was bedeutet das genau?
Um die Grenzen des Screenings zu begreifen, muss man sich mit ein paar Zahlen beschäftigen: Angenommen von 1.000 Teilnehmern an der Früherkennung haben 10 einen unentdeckten, gefährlichen Tumor. Ein idealer Test würde nun diese 10 Tumore zuverlässig aufspüren, so dass sie behandelt und eventuell geheilt werden können; die übrigen 990 Personen könnten mit dem beruhigenden Gefühl nach Hause gehen, keinen gefährlichen Krebs zu haben. Doch diese hundertprozentige Zuverlässigkeit hat keine der heutigen Methoden. Alle Tests machen zwei Fehler: Der erste Fehler sind so genannte falsch-negative Befunde, das sind Tumore, die der Test übersieht. Das heißt, dass man nie ganz sicher sein kann, keinen Krebs zu haben, auch wenn im Screening nichts gefunden wurde.
Und der zweite Fehler?
Das sind so genannte falsch-positive Befunde. Die Mammografie liefert bei etwa 20 bis 30 von 1.000 Frauen ohne Tumor trotzdem einen auffälligen Röntgenbefund. Das ist der Grund, warum nach einem verdächtigen Befund immer weitere Untersuchungen stattfinden müssen. Bei den meisten Frauen stellt sich der Verdacht dann als falscher Alarm heraus. Solche Untersuchungen kosten Zeit oder können mit Gesundheitsrisiken verbunden sein, etwa wenn eine Operation zur Gewebeentnahme nötig ist. Hinzu kommt, dass Menschen die psychischen Belastungen des falschen Alarms und der Wartezeit sehr unterschiedlich verarbeiten.
Was sagen denn Studien zu diesen Belastungen?
Falsch-positive Befunde können Frauen in starke Sorgen versetzen. Sie berichten, dass sie die Zeit des Wartens auf weitere Ergebnisse als sehr belastend erleben. Ein falsch-positiver Befund hält jedoch offenbar die meisten Frauen nicht ab, auch an künftigen Screening-Untersuchungen teilzunehmen. Im Gegenteil: Für manche ist diese Erfahrung ein weiteres Argument für ihre Teilnahme.
Screening:
Der englische Begriff bedeutet „aussieben“ und meint: Aus einer meist großen Gruppe von Menschen möchte man diejenigen heraussieben, die eine bestimmte Erkrankung oder ein hohes Erkrankungsrisiko haben – ohne bisher davon zu wissen.
Immer wieder hört man von Überdiagnosen durch das Krebs-Screening. Was bedeutet das?
Damit ist der Krebs gemeint, der gar nicht oder so langsam wächst, dass er nie Beschwerden verursacht und ohne die Früherkennung nie aufgefallen wäre. Überdiagnosen sind für viele Menschen schwer zu begreifen, weil wir die Vorstellung haben, Krebs sei immer gefährlich. Das stimmt aber nicht: Krebsgewebe kann sich sehr unterschiedlich verhalten – nur lässt sich sein Verhalten nicht sicher vorhersagen. Deshalb wird die Mehrzahl der durch Früherkennung gefundenen Tumore so behandelt, als wären sie aggressiv und lebensbedrohlich.
Kommen Überdiagnosen bei allen Krebsarten vor?
Grundsätzlich kann es immer Überdiagnosen geben. Wissenschaftler schätzen, dass es sich bei der Mammografie bei etwa 20 Prozent und beim PSA-Test zur Früherkennung von Prostatakrebs etwa bei 30 Prozent der gestellten Diagnosen um Überdiagnosen handelt. Bei Darmkrebs und Gebärmutterhalskrebs ist die Lage aber anders: Da wird vor allem nach noch gutartigen Vorstufen der Erkrankungen gesucht. Die können dann bei Bedarf behandelt werden, sodass Krebs gar nicht erst entsteht. Dadurch lässt sich sogar die Zahl der Krebsdiagnosen in der Bevölkerung verringern.
Aber welche Probleme entstehen durch eine Überdiagnose?
Eine Überdiagnose ist im Einzelfall nicht zu erkennen. Deshalb hat sie oft alle Folgen wie jede andere Krebsdiagnose. Schon die Diagnose selbst ist eine schwere seelische Last. Hinzu kommen dann Behandlungen, so genannten Übertherapien – zum Beispiel Operationen, die generell belastend und mit Risiken verbunden sind. Die Menschen müssen Strapazen und Komplikationen von Therapien in Kauf nehmen, ohne einen Vorteil zu haben. Im Gegenteil: Ohne die Früherkennung hätten sie nie von dem „Krebs“ erfahren.
Gibt es eigentlich Zahlen zum Nutzen und Schaden der Krebsfrüherkennung?
Solche Zahlen haben wir in unseren Broschüren für Brustkrebs1 und Darmkrebs2 aufgearbeitet. Wenn 1.000 Frauen 20 Jahre lang regelmäßig am Mammografie-Screening teilnehmen, sterben in diesem Zeitraum etwa 2 bis 6 Frauen weniger durch Brustkrebs. Gleichzeitig erhalten aber 9 bis 12 der 1.000 Frauen eine Überdiagnose und damit in der Regel überflüssige Behandlungen. Die Zahlen für das Darmkrebs-Screening sind etwas komplexer. Sie unterscheiden sich für Männer und Frauen und auch für die zwei Alternativen, also den Stuhltest und die Darmspiegelung (siehe Tabelle).
Der Patient oder die Patientin muss also für jede Untersuchung Vor- und Nachteile abwägen. Was sollten sie bei Angeboten zur Früherkennung generell beachten?
Man kann sich Zeit lassen. Denn bei Früherkennung besteht kein Zeitdruck! Wer mag, kann sich erst einmal genauer informieren. Generell sollte man Screeningverfahren, die man nicht kennt, zunächst ablehnen und sich schlau machen. Dabei kann es sich lohnen, folgende Fragen für sich zu klären:3 Ist überhaupt ein Nutzen für das Screening nachgewiesen? Heute werden viele Untersuchungen als so genannte individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) angeboten, bei denen der Nutzen nämlich gar nicht gut untersucht oder sogar widerlegt ist. Dazu gehören zum Beispiel Ultraschalluntersuchungen auf Eierstockkrebs. Und wie groß ist mein persönliches Risiko für die gesuchte Krankheit? Ist es so groß, dass es mich – etwa durch Krebserkrankungen in der Familie – zu Recht beunruhigt? Was sind die Nachteile der Untersuchung? Wie häufig und schwerwiegend sind sie?
Am Ende bleibt dann nicht anderes übrig, als die Antworten für sich abzuwägen. Die Entscheidung kann letztlich nur jede Person für sich selbst treffen.
Vielen Dank für das Gespräch, das natürlich kein Patentrezept liefert, aber nachdenklich macht.
2 IQWiG (2016) Einladungsschreiben und Entscheidungshilfen zum Darmkrebs-Screening. Abschlussbericht des Projekts P15-01, Stand 24.10.2016
3 Für einige angebotene Untersuchungen finden sich Antworten auf diese Fragen auf dem Patientenportal des IQWiG www.gesundheitsinformation.de oder beim IGeL-Monitor www.igel-monitor.de
Stand: 2. Mai 2017 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 03/2017 / S.19
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