Zum Inhalt springen
©Elke Brüser

Nahrungsmittel-Allergie: Nicht bekömmlich

Nahrungsmittelallergie

Jeder fünfte Befragte glaubt, an einer Nahrungsmittelallergie oder Nahrungsmittelunverträglichkeit zu leiden. Aber höchstens ein Zehntel von ihnen – also zwei von hundert Personen – hat da wirklich ein Problem, zum Beispiel eine ernste Nahrungsmittelallergie. Warum es wichtig ist, die Beschwerden richtig einzuordnen und worauf Sie achten sollten, besprachen wir mit dem Allergologen Jörg Kleine-Tebbe.

GPSP: Herr Kleine-Tebbe, können Sie uns mit einfachen Worten beschreiben, was eine Allergie ist – und was nicht?

Kleine-Tebbe: Der Begriff Allergie beinhaltet, dass das Immunsystem beteiligt ist. Bei der Nahrungsmittelunverträglichkeit können auch andere Mechanismen eine Rolle spielen. Die Nahrungsmittelallergie ist genau genommen eine Sonderform der Unverträglichkeit.

GPSP: Was heißt das eigentlich, wenn bei allergischen Reaktionen das Immunsystem, also die körpereigene Abwehr, beteiligt ist?

Kleine-Tebbe: Bei der so genannten Soforttyp-Allergie entwickelt der Betreffende Antikörper der Klasse E, wir sprechen von Immunglobulin E, kurz IgE, das sich zum Beispiel gegen einen speziellen Nahrungsbestandteil richtet. Diesen Prozess bezeichnen wir als Sensibilisierung. Ein anderer Begriff dafür ist Allergiebereitschaft. Sie entsteht als erstes, bevor man tatsächlich allergisch reagiert.

GPSP: Führt eine solche Bereitschaft immer zu Beschwerden?

Kleine-Tebbe: Nein, es ist nicht so, dass alle sensibilisierten Menschen zu Allergikern werden. Wahrscheinlich ist es etwa die Hälfte von ihnen. Dieser Zusammenhang wird in den Medien manchmal verwechselt. Denn wenn es da heißt, es seien rund 40 bis 50 % aller Menschen allergisch, dann ist die Allergiebereitschaft gemeint und nicht die eigentliche Allergie.

GPSP: Woran lässt sich denn die Sensibilisierung erkennen?

Kleine-Tebbe: Als Arzt erkenne ich das entweder am positiven Hauttest oder durch einen Bluttest. Der liefert mir im Fall einer Sensibilisierung ein positives Laborergebnis auf allergenspezifisches IgE.

GPSP: Klingt kompliziert. Worum handelt es sich dabei?

Kleine-Tebbe: Dieses IgE erkennt die Allergene, beispielsweise von Pollen, Schimmelpilzen, Milben, Tieren oder eben von bestimmten Nahrungsbestandteilen.

GPSP: Was sind das für allergene Stoffe in der Nahrung?

Kleine-Tebbe: In der Regel handelt es sich um Eiweißstoffe, also um Proteine. Ein Teil ist tierischer Herkunft, etwa in der Kuhmilch und in Hühnereiern. Die sind recht stabil und gehen auch beim Kochen nicht kaputt. Gerade Säuglinge, bei denen in der Familie häufiger Allergien vorkommen, können schon in den ersten Lebensmonaten gegen diese Eiweiße eine Allergie entwickeln. Manche Kinder reagieren allerdings auch schon früh auf pflanzliche Allergene wie Erdnuss, Weizen, Nüsse oder Soja.

GPSP: Müssen Sie damit ein Leben lang klar kommen?

Kleine-Tebbe: Aus Gründen, die wir nicht genau kennen, werden viele mit ungefähr zwei bis drei Jahren zunehmend tolerant. Oder anders gesagt, 8 von 10 dieser frühkindlichen Allergiker können, wenn sie in die Schule kommen, diese Nahrungsmittel wieder vertragen. Allerdings wächst sich bei Fisch, Erdnuss und richtigen Nüssen die Überempfindlichkeit des Immunsystems nicht so leicht aus, sondern kann bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben.

GPSP: Wie äußert sich denn überhaupt eine Nahrungsmittelallergie?

Kleine-Tebbe: Die Beschwerden können ganz verschiedene Organsysteme betreffen: Die Schleimhaut in der Mundhöhle kann jucken oder anschwellen. Und die Haut kann zusätzlich mit Quaddeln oder Juckreiz reagieren. Daneben kön­nen in den Atemwegen asthma­tische Beschwerden entstehen. Natürlich kann auch der Verdauungstrakt betroffen sein. Das führt dann zu Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen und Durchfall. Besonders dramatisch ist der allergische oder anaphylaktische Schock. Da weiten sich die Blutgefäße im Körper sehr stark, der Blutdruck sinkt dadurch ab, so dass es zu Ohnmacht und Kreislaufkollaps kommen kann. Ein solcher Schock kann sogar tödlich enden.

GPSP: Offenbar haben Jugendliche und Erwachsene in der Regel andere Nahrungsmittelallergien als Kinder. Was steckt dahinter?

Kleine-Tebbe: Bei einer erblich bedingten Aller­giebereitschaft entsteht ab dem Schulalter oft eine Pollenallergie mit Beschwerden der Atemwege; der Volksmund spricht von „Heuschnupfen“. Die größte Rolle spielen Baumpollen, Gräser- und Kräuterpollen. Im April verursachen vor allem Birken diese allergischen Schleimhautbeschwerden. Sie tragen in ihren Pollen ein Eiweiß, das die Pflanze vor Schädlingen – also vor Stress – schützen soll. Dieses natürliche Stresseiweiß findet sich auch in Hasel-, Erlen-, Eichen- und Buchenpollen. Darum reagieren Menschen mit einer Sensibilisierung für Birkenpollen im Aller­gietest auch auf solche Baumpollen. Da einige pflanzliche Nahrungsmittel ebenfalls Spuren von dem Stresseiweiß enthalten, werden Kern- und Steinobst, bestimmte Gemüse und Soja ebenfalls nicht vertragen. Und das ist die Grundlage der so genannten Kreuzallergie.

GPSP: Was ist damit gemeint?

Kleine-Tebbe: Dass durch die Birkenpollenallergie eine Allergiebereitschaft entstanden ist, die eine Reaktion auf Nahrungsmittel begünstigt. Es gibt eine ganze Reihe von pflanzlichen Nahrungsmitteln, die zirka 70 % der Birkenpollenallergiker nicht vertragen: Äpfel, Birnen, Kirschen, Pflaumen, Pfirsiche, Nektarinen, Aprikosen, Baumnüsse – die Haselnuss vor allem – und Gemüsesorten wie Karotten, Sellerie und frische Sojaprodukte.

GPSP: Und auf die muss der Birkenpollenallergiker verzichten?

Kleine-Tebbe: Das wäre übertrieben. Besser nur die Lebensmittel meiden, die nicht vertragen werden! Da das verantwortliche Stresseiweiß aus der Familie der Bet v 1-Proteine nicht stabil ist und durch Garprozesse zerstört wird, sind solche Obst- und Gemüsesorten im gekochten Zustand kein Problem. Außerdem bleiben die Symptome meist auf die Mundhöhle beschränkt, weil die Magensäure dieses Stresseiweiß der Pflanzen sofort abbaut. Manchmal gibt es aber auch schwere Reaktionen bei den Betroffenen, insbesondere bei Karotte und Sellerie und bei Soja, wenn es etwa als Getränk oder Pulver konsumiert wird.

GPSP: Auch Kiwis und frische Feigen lösen Allergien aus. Sind exotische Früchte ein besonderes Problem?

Kleine-Tebbe: Bei der Kiwi ist die Sache komplex, weil manche ihrer allergenen Eiweißstoffe sehr stabil sind und sogar die Magenpassage überstehen – das kann dann gefährlich werden. Andere Kiwieiweiße sind typische Kreuzallergene, so dass die Beschwerden auf die Mundhöhle beschränkt bleiben. Aber zu Ihrer Frage: Zwar haben Allergien durch das große Angebot an exotischen Früchten bei uns zugenommen, aber das ist nicht der Hauptgrund für die Zunahme von Nahrungsmittel- und Atemwegsallergien hierzulande.

GPSP: Sondern?

Kleine-Tebbe: Wir erklären das vor allem mit dem Heranreifen des Immunsystems nach der Geburt. In der postindustriellen Gesellschaft und dem Leben in Städten ist die Auseinandersetzung mit Umweltkeimen eingeschränkt. Diese mangelnde Keimvielfalt führt möglicherweise dazu, dass unser Immunsystem weniger trainiert wird. Früher gab es mehr Geschwister, größere Familien und mehr Naturnähe. Eine bessere Schulung des Immunsystems könnte mit einem geringerem Allergierisiko verknüpft sein – und umgekehrt. Das macht insofern Sinn, da sich die erblichen Voraussetzungen für allergische Erkrankungen in wenigen Jahrzehnten nicht so dramatisch ändern konnten.

GPSP: Im Gegensatz zu unserer Umwelt. Aber wie erkennt der Arzt eine Nahrungs­mittelallergie?

Kleine-Tebbe: Er fragt nach der Vorgeschichte des Patienten und wird – wie schon erwähnt – die Allergiebereitschaft mit einem Hauttest oder einem Bluttest auf IgE ermitteln. Solche Tests spiegeln aber nur dann eine echte Allergie wieder, wenn die Beschwerden dazu passen. Ist die Situation unklar, sollte eine Provokation mit dem verdächtigen Nahrungsmittel durchgeführt werden. Allerdings nur in einer dafür spezialisierten Einrichtung.

GPSP: Und was macht man, wenn das „böse“ Allergen entdeckt ist?

Kleine-Tebbe: Da hilft nur, es konsequent zu meiden. Ein Erdnussallergiker muss wissen, wo überall Erdnuss verborgen sein kann, und er muss lernen, bei verpackten Lebensmitteln die Produktinformationen genau zu lesen beziehungsweise gezielt nachzufragen. Denn bereits Spuren des Allergens können schwerste Symptome auslösen. Ein ebenfalls hohes allergenes Potenzial besteht bei Schalen- und Krustentieren, sowie bei Fisch. Geringste Mengen dieser stabilen Eiweißstoffe sind manchmal schon kritisch.

GPSP: Wie kann man dem begegnen?

Kleine-Tebbe: Wer schon einmal eine allergische Allgemeinreaktion hatte, die über lokale Beschwerden hinausging, sollte immer ein Notfallbesteck bei sich haben. Es besteht aus einer Adrenalinspritze, einem Antihistamin und einem Cortisonpräparat. Die Spritze ist wichtig, weil sie schnell wirkt und eine allergische Schockreaktion verhindern kann. Man drückt sie sich seitlich in den Oberschenkel, sogar durch die Kleidung, wenn es schnell gehen muss. Leider wird sie in Notsituationen oft gar nicht oder zu spät angewandt.

GPSP: Gibt es Arzneimittel oder andere Therapien, die vor den Gefahren einer Nahrungsmittelallergie schützen?

Kleine-Tebbe: Eigentlich nicht. Zwar versucht man, durch die regelmäßige Einnahme des Allergens in langsam ansteigenden Mengen, den Körper tolerant zu machen. Aber diese Versuche sind nicht ohne Risiken und werden nur in Kliniken von spezialisierten Aller­go­logen durchgeführt. Und leider kann die einmal erreichte Verträglichkeit durch Erkältungen, körperliche Anstrengungen – oder wenn das Allergen einmal nicht eingenommen wurde – wieder zusammenbrechen. Insofern bleibt nur, das jeweilige Allergen zu meiden, was aber voraussetzt, dass die Diagnose hundertprozentig stimmt.

GPSP: Das tut sie oft nicht?

Kleine-Tebbe: Bei vielen Menschen, die sich irgendwelche Nahrungsmittel verbieten, fehlt eine sichere Diagnose. Zum Beispiel steckt hinter reinen Verdauungsbeschwerden oft das Reizdarmsyndrom und keine Allergie!

GPSP: Anders gesagt, da wird unnötigerweise eine Diät eingehalten?

Kleine-Tebbe: So ist es. Das gilt ebenso für Nahrungsmittelunverträglichkeiten, die auch nicht auf einer Allergie beruhen, wie die Laktoseintoleranz. Solche Intoleranzen lassen sich überhaupt nicht per Hauttest oder Bluttest nachweisen. Statt dessen hilft bei einer Unverträglichkeit von Milchzucker, der Laktose, zum Beispiel ein Test auf Wasserstoff in der Atemluft weiter.

GPSP: Wenn der positiv ausfällt, muss man aber nicht auf absolute Laktosefreiheit achten. Oder?

Kleine-Tebbe: Bei allen Nahrungsmittelunverträglichkeiten ist eine gute Ernährungsberatung wichtig. Da wird auch besprochen, wie viel Milchzucker der Einzelne toleriert oder ob er als Birkenpollenallergiker gekochtes Apfelkompott essen darf.

GPSP: Wer vermutet, dass er eine Speise nicht verträgt, sollte der vielleicht erst mal selbst einen Test machen lassen? Im Internet gibt es ja entsprechende Angebote.

Kleine-Tebbe: Von solchen Bluttests aus dem Internet, die nur die Immunglobuline IgG oder auch IgE bestimmen, würde ich abraten. Sie bilden nur ab, dass sich das Immunsystem mit bestimmten Eiweißstoffen mal auseinandergesetzt hat, klären aber nicht, ob eine Allergie besteht. Dazu müssen Krankengeschichte, aktuelle Symptome und Labortests im Zusammenhang betrachtet werden.

GPSP: Da schmeißt man also Geld zum Fenster raus und ist hinterher nicht schlauer.

Kleine-Tebbe: Man riskiert sogar eine Fehl­ernährung, weil man glaubt, bestimmte Nahrungsbestandteile nicht zu vertragen. Auch andere Tests wie Bioresonanzverfahren oder Elektroakkupunktur taugen nicht zur Diagnostik.

GPSP: Sie empfehlen also bei Nahrungsunverträglichkeit eine allergologische Praxis aufzusuchen. Das geben wir gerne weiter und danken Ihnen für das Gespräch.

PDF-Download

– Gute Pillen – Schlechte Pillen 02/2014 / S.19