Woher wissen wir, was Abwarten bringt?
Sehr geehrte Damen und Herren,
in Ihrer Antwort auf den Leserbrief zum Placebo-Effekt (GPSP 5/2019, S. 26) interessiert mich ein Satz: „Im Übrigen darf auch nicht übersehen werden, dass viele Beschwerden von ganz alleine verschwinden – mit oder ohne Behandlung.“ Davon bin auch ich überzeugt, doch gibt es dazu Tests, Studien, wenigstens Aussagen? Denn diese Beschwerden werden ja oft ohne Arztbesuch durchgestanden. M.F.
GPSP: In der Medizin ist es wichtig zu wissen, wie eine Krankheit auch ohne Therapie verläuft. Bei vielen lästigen, aber nicht gefährlichen Erkrankungen ist das auch ohne medizinische Ausbildung erfahrbar. So weiß etwa der Volksmund: „Mit Behandlung dauert eine Erkältung sieben Tage und ohne Behandlung eine Woche.“
In anderen Fällen kann es sinnvoll sein, nur Symptome zu lindern und ansonsten darauf zu warten, dass die Krankheit wieder von selbst verschwindet: Das ist etwa die aktuelle Empfehlung im Fall von Mittelohrentzündungen bei Kindern, wenn es keine Anzeichen für Komplikationen gibt. Dann reichen in der Regel Schmerzmittel aus, Antibiotika sind häufig nicht nötig.1
Deutlich komplexer wird die Angelegenheit, wenn die Folgen von Behandlung oder Nicht-Behandlung erst nach einem längeren Zeitraum deutlich werden. Das zeigen etwa Untersuchungen bei Prostatakrebs: Es gibt einige Formen, die eher schnell, und einige, die eher langsam wachsen – unter Umständen so langsam, dass sich die Lebenszeit des Patienten durch den Krebs gar nicht verkürzt. Würde man jeden diagnostizierten Prostatakrebs sofort behandeln, müssten aber alle Patienten die Nebenwirkungen der Therapie auf sich nehmen, auch wenn sie davon keinen Nutzen hätten. Deshalb wird in der Regel heute nicht jeder Prostatakrebs sofort behandelt, sondern je nach Form wird zugewartet oder aktiv überwacht, ob sich Beschwerden oder Anzeichen für einen gefährlichen Verlauf zeigen.2
Gerade im hausärztlichen Bereich kann es eine berechtigte Strategie sein, bei eher milden Beschwerden erst einmal abzuwarten, ohne weiterführende Diagnostik oder eine umfangreiche Behandlung anzusetzen, wenn es keine Hinweise auf schwerwiegende Ursachen gibt.3 So wird es etwa bei akuten unspezifischen Rückenschmerzen gehandhabt.4 Als Patient oder Patientin sollte man dann nicht enttäuscht sein, „nur“ einen Termin zur Kontrolle zu bekommen – je nach Erkrankung einige Tage oder Wochen später– statt sofort ein Rezept oder eine Überweisung zur Abklärung mit Hightech-Medizin.
Wenn eine Erkrankung behandelt wird, ist es übrigens gar nicht so einfach herauszufinden, ob der aktuelle Krankheitszustand auf dem natürlichen Verlauf der Erkrankung beruht, also sich die Erkrankung von selbst gebessert hat, oder durch die Behandlung zustande kommt. Denn dann mischen sich natürlicher Verlauf, Placebo-Effekt und auch der hoffentlich vorhandene Effekt der Therapie. Deshalb sind sorgfältige Studien nötig, um den tatsächlichen Therapie-Effekt herausrechnen zu können.
Stand: 30. August 2020 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 05/2020 / S.24