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Die weiße Mafia

Nicht schon wieder eine Kritik an den Missständen unseres Gesundheitssystems, so der erste Reflex. Aber die Neugier siegte dann doch. Ein Glück! Denn dieses Buch ist anders. Dem Autor Frank Wittig gelingt es, mitreißend davon zu berichten, wie Kranke und Gesunde häufig von „der Medizin“ überversorgt werden. Nicht zu ihrem Wohle.

Wittig F (2013) Die weiße Mafia. München: Riva, 224 Seiten, 19.90 €

Wittig, der im ARD-Fernsehen seit Jahren diesen Missstand thematisiert, versteht es, seine Leserinnen und Leser auf gut 200 Seiten zu fesseln: mit den Bildern von OPs und Krankenbetten, die er als Fernsehjournalist im Kopf hat, mit den Patienten, die ihm ihre persönliche Leidensgeschichte erzählt haben, mit seinem Staunen und seiner Wut über die Überheblichkeit und Profitgier unter Ärzten. Nur wenige zählt er zum „inneren Kreis der weißen Mafia“, einige bezeichnet er als Paten, die meisten seien aber als Kollaborateure oder Mitläufer unterwegs. Das Problem: Ärzte stellen die Diagnosen und verdienen am besten, wenn sie mächtig viel behandeln.

Um seine Kritik zu untermauern, serviert uns der Autor nicht einfach nur entlarvende Statements von Profiteuren, sondern er verzahnt seine Erfahrungen als investigativer Journalist und die Ergebnisse von fachlich guten Studien. Im Vorwort zu „Die weiße Mafia“ schreibt er: „ … ich habe versucht, diese Missstände in größere Zusammenhänge einzuordnen. Nur so wird das System erkennbar, das diese Entgleisungen des medizinischen Betriebs verursacht.“

Mit Entgleisungen meint er unsinnige Knorpelglättungen im Knie, zu niedrige Normwerte etwa für den Blutdruck, die mehr Menschen bluthochdruckkrank machen, unbegründete Gebärmutterentfernungen, Vitaminmangel-Märchen, PSA-Tests mit schädlichen Folgen, Kariesbehandlung inklusive Bohren, wo keine Karies war, überflüssige Operationen bei Rückenschmerzen, sinnfreie Stents bei wenig verengten Herzkranzgefäßen usw. Und zum System rechnet er nicht nur die börsennotierten Pharmahersteller und Anbieter von Medizintechnik, sondern auch jedes Krankenhaus, das an überflüssiger Diagnostik und Behandlung verdienen will, und all die Ärzte, die dieses böse Spiel mitspielen und dafür Boni erhalten. Wittig meint auch gekaufte Journalisten und Experten, die in medizinischen Fachgesellschaften den Ton angeben.

Am Ende des Buches macht der Autor Vorschläge, was sich ändern muss, um den medizinischen Wildwuchs wenigstens einzudämmen. Mehr verspricht er nicht angesichts der Macht des medizinisch-industriellen Komplexes, der auf Wachstum programmiert ist. Und wie sich Patienten vor Übertherapie schützen können, hat er auch aufgeschrieben: z.B. Zweitmeinung einholen, sich richtig informieren,1 Patientenverfügung besitzen. Damit man als Sterbenskranker möglichst friedlich von dannen gehen kann.

In seiner Schlussbemerkung anerkennt Wittig die Mühen derjenigen, die als engagierte Ärztinnen und Ärzte, als Pflegerinnen und Pfleger „an der Basis im Gesundheitssystem arbeiten“ und „sich täglich für ihre Patienten … aufopfern“. Er folgert: „Gerade um diese Arbeit zu erleichtern und, wo nötig, besser zu entlohnen, um im Pflegesektor mehr Stellen finanzieren zu können, um mehr Raum für die sprechende Medizin zu schaffen, müssen wir die mafiösen Verhältnisse im Sektor Gesundheit zurückdrängen.“

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 02/2013 / S.16