Der Horror der frühen Medizin
Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner
Hygiene, Desinfektionsmittel, Narkosen bei Operationen: Für uns heute selbstverständlich. Mitte des 19. Jahrhunderts sah das noch ganz anders aus.
Viele medizinische Errungenschaften der letzten Jahrhunderte gehören heute zum Behandlungsalltag. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass hygienische Maßnahmen wie die Händedesinfektion oder auch die wirksame Schmerzausschaltung bei einer Operation mithilfe einer Narkose weniger als 200 Jahre alt sind.
Eine Zeitreise
Das Buch „Der Horror der frühen Medizin“ nimmt die Leserinnen und Leser mit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert, als solche Methoden noch nicht zur Verfügung standen. Die Autorin Lindsey Fitzharris, eine promovierte Medizinhistorikerin, erzählt die Lebensgeschichte des britischen Chirurgen Joseph Lister. Er beschäftigte sich damit, wie sich Wundinfektionen verhindern lassen.
Keine triviale Frage zu einer Zeit, in der sich die Erkenntnis, dass Bakterien Krankheiten verursachen, noch nicht durchgesetzt hatte und vielmehr schlechte Gerüche oder andere Ursachen für Infektionen verantwortlich gemacht wurden.
Auf der Suche nach Ursachen
Bei seiner Arbeit im Krankenhaus machte Lister die Erfahrung, dass Wunden besser heilen, wenn sie gereinigt und anschließend mit einer hochgiftigen, ätzenden Lösung eines Quecksilbersalzes behandelt werden. Als einer der ersten untersuchte er Flüssigkeiten aus infizierten Wunden mit dem Mikroskop und fand dabei kleine gleichmäßige Gebilde. Sollten diese vielleicht die eigentliche Ursache für die Infektion sein?
Der entscheidende Durchbruch gelang Lister jedoch erst, als er von den Arbeiten des französischen Forschers Louis Pasteur erfuhr, der sich mit Gärungs- und Fäulnisprozessen beschäftigte und dabei nachweisen konnte, dass Bakterien dafür verantwortlich sind. Lister testete daraufhin verschiedene Substanzen, die Bakterien abtöten können, und setzte sie erfolgreich vorbeugend bei Wunden ein.
Trotz seiner Erfolge musste sich Lister noch gegen die Widerstände seiner Kollegen durchsetzen. Aber die Akzeptanz stieg, als er Königin Viktoria von einem Abszess befreite und die Wunde dank seiner antiseptischen Methode problemlos verheilte. Schließlich breiteten sich seine Erkenntnisse über die ganze Welt aus. Noch heute zeugt der Name der antibakteriellen Mundspülung „Listerine“ von den Verdiensten Listers.
Große Zusammenhänge
Neben spannenden Geschichten um wissenschaftliche Erkenntnisse, Versuche und Fehlschläge vermittelt das Buch interessante Einblicke in die Extreme der viktorianischen Gesellschaft in England, in die Kontroversen zwischen „echten“ Ärzten und Chirurgen und in die Machtspiele des medizinischen Establishments. Daneben treffen die Leserinnen und Leser auf berühmte Ärzte der damaligen Zeit, deren Namen heute als Bezeichnungen für Krankheiten weiterleben, sowie auf Florence Nightingale, die Pionierin der modernen Krankenpflege.
Die Autorin versteht es, die Medizin des 19. Jahrhundert für die Leserinnen und Leser anschaulich werden zu lassen – für Menschen mit einem schwachen Magen vielleicht sogar ein bisschen zu plastisch. Wer sich davon aber nicht abschrecken lässt, bekommt mit dem Buch eine spannende, lehrreiche und unterhaltsame Lektüre. Und wer den einen oder anderen Aspekt noch vertiefen will, findet reichlich Material in den umfangreichen Anmerkungen und Quellenangaben.
Stand: 1. Juli 2019 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 04/2019 / S.12