„Das ist kein Humbug!“: Wie die Narkose entdeckt wurde
Wie Operationen ohne Schmerzen möglich wurden
Wie viele Schmerzen kann ein Mensch aushalten? Lange musste sich die Medizin mit dieser Frage beschäftigen, wenn sie versuchte, zu heilen. Bei Operationen und anderen Prozeduren fügten Heilkundige ihren Patient:innen bis ins 19. Jahrhunderte nicht selten noch mehr Schmerzen zu als die Krankheit selbst. Das änderte sich mit der Entdeckung der Narkose.
Am 10. Dezember 1844 trat der Entertainer Gardener Quincy Colton in der kleinen Stadt Hartford im US-Bundesstaat Connecticut auf. Er ließ in seiner Show einen jungen Mann aus dem Publikum ein Gas einatmen. Darauf begann dieser, auf der Bühne allerlei wilde Sprünge zu vollführen. Dabei stürzte der Mann mehrmals und schlug sich die Knie blutig. Doch weder stoppte dies seinen wilden Tanz noch konnte er sich nach diesem „Kunststück“ an seine Sprünge oder an Schmerzen erinnern.1
Lachgas für die Zahnmedizin
Der Zahnarzt Horace Wells, der sich im Publikum befand, begriff sofort, dass dieses Gas ihm bei der Behandlung seiner Patient:innen helfen könnte. Er bat den Entertainer zu sich nach Hause, um zu lernen, wie man die Gasmischung herstellt. Noch am selben Abend ließ sich Wells unter dem Einfluss des Gases von seinem Assistenten einen Zahn ziehen – und blieb dabei schmerzfrei. In den darauffolgenden Tagen probierte er das Verfahren an mehreren Patient:innen aus und war begeistert. Das Gas, das Wells „entdeckt“ hatte, war Lachgas. Und wenn alles so verlaufen wäre, wie solche Geschichten normalerweise weitergehen, hätte Wells als Begründer der Anästhesie gegolten.
Doch es kam anders. Als Wells das Verfahren einflussreichen Medizingelehrten in Boston vorführen wollte, erlebte er ein Desaster. Er wartete nicht lange genug, bis die volle Wirkung des Gases einsetzte. Der Patient schrie auf und das Verfahren geriet in Verruf. Daran änderte sich auch nichts, als der Patient später angab, nichts gespürt zu haben.
Narkose mit Äther
Bei den Medizingelehrten handelte es sich unter anderem um Wells’ ehemaligen Schüler William T. G. Morton. Dieser begann nach der misslungenen Vorführung selbst mit Untersuchungen und verwendete nicht Lachgas, sondern Äther. Es war bereits bekannt, dass Äther Schmerzen lindern kann. Dazu wurde das Mittel bislang auf ein Tuch getropft und vor Nase und Mund gehalten.2 Morton benutzte jedoch eine andere Konstruktion: Er legte einen mit Äther getränkten Schwamm in einen Glaskolben mit zwei Öffnungen. Die Patient:innen konnten so ein Gemisch aus Äther und Raumluft einatmen und direkt in die umgebende Luft ausatmen. Damit hatte Morton das erste halboffene Narkosegerät erfunden. Als der Chefchirurg der Universität Harvard, John Collins Warren, davon hörte, lud er Morton zu einer Demonstration des Verfahrens ein. Am 16. Oktober 1846 leitete Morton die Narkose bei einem Patienten mit einem Tumor an der linken Halsseite ein, der nach dem Einatmen des Äthers einschlief, und Warren operierte. Das Urteil des Chirurgen: „Meine Herren, das ist kein Humbug!“
Weiterentwicklungen
Weil eine Narkose mit Lachgas schwierig zu kontrollieren war, setzten sich zunächst Äther und Chloroform durch. Der Berliner Chirurg Curt Schimmelbusch vereinfachte die Anwendung Ende des 19. Jahrhunderts durch eine mit Gaze bespannte Gesichtsmaske. Ab 1890 untersuchte man systematischer die Vor- und Nachteile der verschiedenen Substanzen und Verfahren.
Anästhesie heute
Die moderne Medizin kennt verschiedene Verfahren und Arzneimittel, um den Schmerz zu bekämpfen und bei Operationen das Bewusstsein auszuschalten.4 Bei der Allgemeinanästhesie („Vollnarkose“) sind Schmerz und Bewusstsein zentral ausgeschaltet. Für die Lokalanästhesie („örtliche Betäubung“) gibt es mehrere Möglichkeiten: So können etwa Cremes aufgetragen werden, bei denen die Wirkstoffe die Weiterleitung von Schmerzreizen hemmen. Bei anderen Verfahren wird durch gezielte Spritzen die Schmerzleitung einzelner Nervenstränge unterbrochen und dadurch ein begrenztes Gebiet schmerzunempfindlich gemacht.
Späte Anerkennung
Mit Horace Wells nahm es übrigens kein gutes Ende: Er experimentierte nach seiner Lachgas-Pleite weiter mit Gasen und wurde von Chloroform abhängig. Nachdem er im Rausch eine Prostituierte mit Säure attackiert hatte, wählte er am 24. Januar 1848 im Gefängnis den Freitod. Er starb, ohne zu wissen, dass zwölf Tage zuvor die Königliche Medizinische Akademie in Paris seine Arbeit anerkannt hatte und Wells seitdem als erste Person geehrt wird, der es gelungen war, eine Operation ohne Schmerzen durchzuführen – und damit der Chirurgie zu großem Erfolg verhalf. Als „Äthertag“ markiert aber weiterhin der 16. Oktober 1846 den Beginn der Anästhesie und William T. G. Morton gilt bis heute als ihr Begründer.
Stand: 30. April 2021 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 03/2021 / S.10