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Nightingale empfängt die Verwundeten in Scutari. Gemälde von Jerry Barrett. National Portrait Gallery

Die Dame mit den Diagrammen

Wie Florence Nightingale die medizinische Versorgung verbesserte

Viele kennen Florence Nightingale nur als Krankenpflegerin, die in einem britischen Feldlazarett während des Krimkrieges Mitte des 19. Jahrhunderts Herausragendes geleistet hat. Ihr wichtigster Erfolg wird oft übersehen: Sie war eine bedeutende Pionierin der Epidemiologie und nutzte statistische Methoden, um die Medizin zu reformieren.

Es muss ein Bild des Grauens gewesen sein, dass sich Florence Nightingale und knapp 40 anderen Krankenpflegerinnen im November 1854 in Scutari bot: In dem Militär-Lazarett nahe Istanbul wurden britische Soldaten behandelt, die im Krieg auf der Krim-Halbinsel verwundet worden waren. Knapp die Hälfte von ihnen starb – die meisten allerdings nicht an ihren Kriegsverletzungen, sondern an Seuchen wie Typhus und Cholera.

Die hygienischen Verhältnisse im Lazarett waren katastrophal: keine sauberen Laken, die Kleidung der Soldaten starrte vor Dreck und wimmelte von Läusen und Flöhen. Seife und Handtücher waren Mangelware. Nightingale machte sich nach einigem Widerstand aus den Reihen des Militärs mit ihren Kolleginnen daran, die Lazarette zu säubern und Hygienemaßnahmen einzuführen.

Als Nightingale zwei Jahre später nach London zurückkehrte, hatte sich die Versorgung der Verwundeten drastisch verbessert: So starben nur noch etwas mehr als zwei Prozent der Soldaten, die im Lazarett behandelt wurden.1

Verborgene Talente

Oft wird diese Leistung ihren praktischen pflegerischen Fähigkeiten und ihrem Einsatz zugeschrieben. Sie gilt als die „Dame mit der Lampe“, da sie noch nachts Rundgänge durch das Lazarett machte und den Verwundeten Hoffnung zusprach. Mit ihr wandelte sich das damalige Bild der unwissenden Krankenpflegerin mit niedrigen moralischen Standards hin zur hochrespektierten, gut ausgebildeten Pflege-Dame. Doch einer ihrer wichtigsten Beiträge wird kaum beachtet: ihre Datenerhebungen und statistischen Analysen. Dafür hatte sie sich schon als junges Mädchen interessiert. Und sie hatte das Glück, dass ihre Eltern diese Liebe zur Mathematik förderten.

Umfangreiche Auswertungen

In ihrer Zeit auf der Krim hatte Florence Nightingale Daten zu Todeszahlen und Todesursachen gesammelt. Nach ihrer Rückkehr nach England hatte sie eine Mission: Sie wollte das britische Militär und die Regierung davon überzeugen, dass größere medizinische Reformen nötig waren. Eine gute Gelegenheit dafür bot sich, als sie auf einem Empfang den medizinischen Statistiker, Arzt und Leiter des Statistischen Amtes für England und Wales, William Farr, kennenlernte.

Von da an arbeiteten beide gemeinsam daran, die Zusammenhänge zwischen äußeren Einflüssen und dem Verlauf von Krankheiten zu ergründen. Nightingale fasste die Erkenntnisse in einem 800 Seiten starken Bericht zusammen.2

Erfindung des Rosendiagramms

Für diesen Bericht entwickelte sie eine neue Form, Daten zu veranschaulichen: sogenannte Hahnenkamm- oder Rosendiagramme. So war es den Lesern viel leichter möglich, sowohl die Situation zu verstehen als auch die Veränderungen zu erfassen, die durch bestimmte Maßnahmen erreicht wurden. Dieser Ansatz war revolutionär für die Statistik der damaligen Zeit.3

Rosen­diagramm von rechts nach links zu lesen: Die Sterblichkeit im Lazarett von Scutari. Die Größe des Tortenstücks steht für die Zahl der Todesfälle im Monat. Die Farben stehen für die Todesursachen: Rot: durch Wunden. Blau: durch vermeidbare Krankheiten. Schwarz: andere Gründe.

Verbesserung durch Statistik

Nightingale spornte auch andere an, Daten zu sammeln: So bat sie praktisch tätige Ärzte und Pflegerinnen darum, ihre Beobachtungen zu dokumentieren. Eine große Hürde war jedoch die sehr unterschiedliche Dokumentation in den Krankenhäusern, sodass die Vergleiche zwischen diesen Einrichtungen kaum möglich waren. Deshalb entwickelte sie standardisierte Fragebögen. So konnte Nightingale auf eine große Datenbasis zugreifen und damit ihre Hypothesen und Forderungen untermauern.

Auf diese Weise konnte sie etwa belegen, dass die Sterblichkeit sank, wenn die Hygiene in der Krankenversorgung besser wurde, und dass nach ihren Reformen im Krimkrieg die Sterblichkeit niedriger war als bei den Soldaten, die in Großbritannien behandelt wurden.4

Großer politischer Einfluss

Nightingale verwendete bis zu ihrem Tod 1910 viel Zeit auf ihre statistische Arbeit. Immer wieder veröffentlichte sie Extrakte aus ihren Berichten, um Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen. Dazu schrieb sie Tausende Briefe – blieb aber aus Überzeugung stets in der zweiten Reihe. Ihre Aufgabe sah sie darin, ihre exzellenten Verbindungen zu einflussreichen Kreisen zu nutzen, um die Situation für kranke Menschen – die überwiegend zur armen Gesellschaftsschicht gehörten – zu verbessern.2

Unverstandenes Erbe?

Florence Nightingale ist in Großbritannien immer noch eine hoch angesehene Person. So war sie lange Jahre auf dem 10-Pfund-Geldschein abgebildet. Die Notfall-Krankenhäuser, die die britische Regierung für die Corona-Pandemie bauen ließ, wurden nach ihr benannt. Ob Florence Nightingale jedoch das aktuelle Infektionsmanagement der Regierung 5  bei Covid-19 und deren Umgang mit den Zahlen  gutgeheißen hätte, steht auf einem anderen Blatt.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2020 / S.12