Weniger messen, mehr sprechen
Ideen für eine bessere Gesundheitsuntersuchung
Jedes Auto muss regelmäßig zum TÜV. Sollten wir dann nicht auch regelmäßig nachsehen lassen, ob mit unserem Körper alles in Ordnung ist? Der Arzt Guido Schmiemann hält wenig von diesem Vergleich und kritisiert die übliche Gesundheitsuntersuchung „Check-up 35“. Er plädiert für weniger Untersuchungen und mehr Gespräche.
GPSP: Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung haben ab dem 35. Geburtstag alle zwei Jahre ein Anrecht auf den so genannten Check-up 35. Weshalb gibt es diese Früherkennungsuntersuchung überhaupt?
Guido Schmiemann: Gleich vorab, den Begriff „Check-up“ finde ich ganz fürchterlich, weil er so technisch ist. „Gesundheitsuntersuchung“ trifft es viel besser. Damit wollen wir Krankheiten entdecken und behandeln, bevor sie überhaupt entstehen oder ein Stadium erreichen, wo sie uns schädigen. Allerdings ist Früherkennung nur sinnvoll, wenn es bei einer Erkrankung tatsächlich ein Frühstadium gibt, wenn die Untersuchung dieses Frühstadium entdecken kann und wenn es auch eine wirksame Behandlung gibt. Wenn ich sowieso nichts am Verlauf der Erkrankung ändern kann, ist die Früherkennung meist nicht sinnvoll.
Welche Untersuchungen gehören denn zu dem Check-up 35?
Das ist in einer Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA)1 festgelegt. Die Untersuchungen sollen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nierenkrankheiten und Diabetes mellitus erkennen – also stark verbreitete Erkrankungen. Der Arzt oder die Ärztin fragt im Gespräch nach den individuellen Risiken, also ob man zum Beispiel bereits einen Herzinfarkt oder Schlaganfall hatte oder ob das in der Familie schon vorgekommen ist. Hinzu kommen körperliche Untersuchungen. Außerdem nimmt der Arzt Blut ab und lässt Cholesterin und Blutzucker untersuchen. Im Urin wird getestet, ob sich dort Zucker, Eiweiß, rote oder weiße Blutkörperchen finden. Ebenso soll der Arzt eine Beratung zur Krebsfrüherkennung anbieten. Am Schluss folgt ein Gespräch über vorbeugende Veränderungen des Lebensstils oder notwendige Behandlungen.
Weshalb sind Sie mit der Untersuchung in der jetzigen Form nicht zufrieden?
Diese Gesundheitsuntersuchung gibt es schon sehr lange. Sie ist in einer Zeit entstanden, als man noch nicht so viel Wert darauf gelegt hat, ob der Nutzen tatsächlich nachgewiesen ist. Zum Beispiel ist nicht mit Studien belegt, ob sich mit den üblichen Urin-Teststreifen überhaupt Nierenerkrankungen mit ausreichender Genauigkeit entdecken lassen.
Warum ist der Check-up 35 nicht schon längst angepasst worden?
Dabei spielen viele Faktoren und Interessen eine Rolle: Versicherte fühlen sich häufig gut aufgehoben, wenn sie viele Leistungen bekommen. Auf der anderen Seite haben Krankenkassen Interesse daran, für junge gesunde Versicherte attraktiv zu sein. Krankenkassen bezahlen inzwischen viele zweifelhafte Leistungen: Homöopathie, Osteopathie, Reiseimpfungen, Hautkrebs-Screening schon ab 18 Jahre und ähnliches. Da geht es um Wettbewerb zwischen Versicherungen, nicht immer um einen belegten Nutzen für Versicherte.
In den letzten Jahren ist der Nutzen von Gesundheitsuntersuchungen in Übersichtsarbeiten ganz grundsätzlich in Zweifel gezogen worden.2,3,4 Warum scheint denn die Theorie der Früherkennung nicht aufzugehen?
Zuerst einmal muss man sich gründlich anschauen, was diese in den Übersichtsarbeiten ausgewerteten Studien genau untersucht haben. Einige haben beispielsweise den Nutzen einer einmaligen Gesundheitsuntersuchung, nicht aber den von wiederholten Untersuchungen erforscht. Bei älteren Studien besteht häufig das Problem, dass nur einzelne Risikofaktoren aber nicht das Gesamtrisiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erfasst wurden, wie man das heute tut.5 Es gibt aber einzelne Gesundheitsuntersuchungen, deren Nutzen für Patientinnen und Patienten gut belegt ist.
Kann eine Gesundheitsuntersuchung auch schaden?
Allerdings. Nehmen wir wieder das Beispiel des Urinstreifen-Tests. Der Test auf rote Blutkörperchen ist sehr ungenau und schlägt sehr häufig auch an, wenn gar kein Blut im Urin ist. Selbst wenn ich als Arzt das weiß, kann ich das Testergebnis nicht auf sich beruhen lassen. Ich muss dann weitere Untersuchungen machen, um Blut im Urin zu bestätigen – oder auszuschließen. Das verunsichert einen und die endgültige Abklärung kostet Zeit, selbst wenn sich am Ende alles als Fehlalarm herausstellt. Damit hat die Untersuchung dem Betroffenen ebenso wie dem Gesundheitssystem geschadet.
Aber manchmal wollen Ärzte sogar noch mehr untersuchen als beim Check-up 35 eigentlich vorgesehen ist.
Ja, viele Ärzte machen zum Beispiel gleich eine Ultraschalluntersuchung oder ein EKG, weil sie überzeugt sind, dass es etwas bringt. Wenn es aber keinen richtigen Grund gibt, zum Beispiel in der Krankengeschichte oder bei der körperlichen Untersuchung, dann kann das möglicherweise schaden. Denn fast immer wenn der Arzt oder die Ärztin zufällig etwas im Ultraschall findet, das man nicht gleich zuordnen kann, zieht das weitere Diagnostik nach sich, zum Beispiel ein MRT oder CT. Aber es gibt auch sinnvolle Ergänzungen: Zum Check-up 35 gehört nur die Bestimmung des Gesamtcholesterins. Das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen lässt sich aber mit der zusätzlichen Bestimmung des HDL-Cholesterins besser abschätzen.
Bezahlt das auch die Krankenkasse?
Es ist manchmal ein Graubereich, was genau die Kasse bezahlt und was nicht. Viele Ärztinnen und Ärzte rechnen Ultraschall, EKG oder HDL-Cholesterin-Messung mit der Krankenkasse ab. Manchmal bieten Ärzte diese und andere Untersuchungen aber als IGeL-Leistung für Selbstzahler an.
Wie sollten sich Patienten dann verhalten?
Ich sage ihnen immer, sie sollen kein Portemonnaie mit zum Arzt nehmen. Und es ist sinnvoll, sich beim IGeL-Monitor6 darüber zu informieren, was genau die Kasse bezahlt und wie sinnvoll die Selbstzahler-Leistung ist. Das muss man nie sofort entscheiden, sondern man kann sich Zeit lassen und gründlich informieren.
Welche Konsequenzen hatten die neueren Erkenntnisse zu Nutzen und Schaden für Ihre Überlegungen, die Gesundheitsuntersuchung anders anzugehen?
Wir wollten eine Untersuchung, bei der der Nutzen für die einzelnen Elemente mit Studien belegt ist. Außerdem wollten wir den Präventionsgedanken stärken und nicht einfach nur Untersuchungen durchführen. Die Beratung gehört zwar auch zum Check-up 35, aber es gibt auch viele Fehlanreize in diesem System. So ist es zum Beispiel wenig sinnvoll, ab dem 35. Lebensjahr bis zum Lebensende alle zwei Jahre bei allen Menschen das Cholesterin zu messen. Das macht nur in bestimmten Gruppen Sinn. Wir wollen weniger mit der Gießkanne arbeiten, sondern stärker differenzieren.
Was bedeutet das genau?
Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Bremer Gesundheitsuntersuchung und dem herkömmlichem Check-up 35 besteht darin, dass wir nach dem Alter differenzieren, weil in verschiedenen Altersstufen unterschiedliche Risiken bestehen. In erster Linie ist die Bremer Gesundheitsuntersuchung konzipiert als eine Einladung zu einem Gesundheitsgespräch anhand von Fragebögen, die der Versicherte vor dem Gespräch ausfüllt. Damit wollen wir weg von dem Fokus auf rein körperliche und technische Untersuchungen. Und wir stärken konsequent die Patientenperspektive: Der Einzelne bestimmt, über welche Themen des Fragebogens wir sprechen sollen. Wenn jemand übergewichtig ist und Bewegungsmangel hat, das Problem aber für sich nicht sieht oder es nicht besprechen möchte, überrede ich ihn nicht zu einem Gespräch darüber.
Warum haben Sie einen Fragebogen für unter 35-Jährige entworfen?
Das war ein Wunsch der Krankenkasse, mit der wir ursprünglich zusammengearbeitet haben. Von uns aus hätten wir für diese Altersgruppe keine Gesundheitsuntersuchung angeboten. Aus den geschilderten Gründen haben Krankenkassen aber ein großes Interesse an Angeboten für jüngere Versicherte. Und ich finde, wir haben aus der Vorgabe das Beste gemacht. Beispielsweise fragen wir nach Symptomen einer Internet-Abhängigkeit. Oder nach dem Rauchverhalten, weil Süchte in jüngeren Jahren ein gesundheitlich relevantes Problem sind. Wenn es im Gespräch keine Auffälligkeiten gibt, verzichten wir auf die Untersuchung von Blut und Urin.
Was ist im mittleren Alter der Unterschied zum Check-up 35?
Die Themen sind sehr ähnlich. Allerdings nutzen wir Fragen aus Testinstrumenten, für die nachgewiesen ist, dass sie diese Krankheit sicher erkennen können. Die Fragebögen führen auch dazu, dass der Arzt oder die Ärztin an alle wichtigen Themen bei der Beratung denkt. Das ist beim bisherigen Check-Up 35 nicht in jedem Fall gewährleistet.
Worauf liegt der Fokus bei älteren Menschen?
Da spielen vor allem Altersbeschwerden und mögliche Probleme mit Medikamenten eine Rolle. Bei der Blutuntersuchung bestimmen wir auch die Nierenfunktion, denn die nimmt im Alter ab, und das muss ich bei der Auswahl oder Dosierung der Medikamente berücksichtigen.
Warum fragen Sie bei älteren Menschen nach einer nachlassenden Gedächtnisleistung? Widerspricht das nicht der Regel, Früherkennung nur anzubieten, wenn eine effektive Therapie vorhanden ist?
Das ist tatsächlich schwierig und wir haben anfangs darüber viel diskutiert. Demenz ist aber im Alter keine Seltenheit, und es ist wichtig, mögliche andere Ursachen von Vergesslichkeit auszuschließen. Wir zwingen niemanden, darüber zu sprechen, wenn ein nachlassendes Gedächtnis für ihn kein Problem darstellt, und machen auch nicht ungefragt weitere Tests. Wenn aber jemand darüber sprechen möchte, entscheiden wir gemeinsam, ob wir intensiver nachforschen und welche Konsequenzen sich ergeben könnten. Die Konsequenz muss nicht unbedingt eine medizinische Behandlung sein, sondern kann etwa die Planung der eigenen Lebensumstände betreffen. Also dass wir zum Beispiel über eine Vorsorgevollmacht für Angehörige sprechen (GPSP 4/2017, S. 22).
Gibt es bereits wissenschaftliche Studien zum Nutzen der Bremer Gesundheitsuntersuchung?
Wir haben bereits die Umsetzbarkeit untersucht. Dabei haben wir herausgefunden, dass Ärzte durch die Fragebögen oft von Problemen ihrer Patienten erfahren, von denen sie vorher nichts wussten. Derzeit untersucht eine Studentin in ihrer Masterarbeit, ob die Fragebögen unserer Gesundheitsuntersuchung den Teilnehmern helfen, beim Arzt die Themen anzusprechen, die ihnen wichtig sind. Gerne würden wir auch untersuchen, ob die Bremer Gesundheitsuntersuchung dazu führt, dass sich weniger Krankheiten entwickeln. Das Problem ist aber, dass man dafür ein entsprechendes Förderprogramm mit einer ausreichenden finanziellen Ausstattung benötigt.
Vielen Dank für das Gespräch und viel Glück bei der Suche nach Geldgebern für die geplante Studie!
Stand: 30. August 2017 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 05/2017 / S.19