Kein Land ist eine Insel
Warum die Tuberkulose noch nicht besiegt ist
Vor hundert Jahren starben auch bei uns noch jedes Jahr viele tausend Menschen an Tuberkulose (Tbc oder TB). Da hatte Robert Koch bereits den Tbc-Erreger entdeckt, wofür er 1905 den Nobelpreis erhielt. Der weitsichtige Arzt wusste allerdings auch, dass Armut und ungesunde Lebensumstände die Erkrankung verschlimmern und Ansteckungen fördern. Zum Glück gibt es seit 50 Jahren wirksame Medikamente, und die Krankheit ist bei uns selten geworden. Aber weltweit ist Tbc stark verbreitet – und kein Land ist eine Insel. Wir fragten Ralf Otto-Knapp, warum es so schwierig ist, diese Infektionskrankheit zu besiegen, und wie sich Ansteckungen vermeiden lassen.
GPSP: Jedes Jahr erkranken weltweit rund neun Millionen Menschen neu an Tuberkulose. Bei uns sind nach dem 2. Weltkrieg die Erkrankungszahlen ständig gesunken und liegen seit langem deutlich unter 5.000. Wie kam es dazu?
Ralf Otto-Knapp: In der Tat starb um 1900 in Deutschland ein großer Teil der arbeitstätigen Bevölkerung an Tbc! Dass das heute nicht mehr so ist, hat verschiedene Gründe. Ganz wichtig war und ist das öffentliche Gesundheitswesen. Es sorgt dafür, dass alle Kontaktpersonen eines Neuerkrankten auf Tbc untersucht werden. Denn die haben ein erhöhtes Risiko, sich angesteckt zu haben. Man nennt das dann Umgebungsuntersuchung.
GPSP: Und was waren andere wichtige Faktoren?
Ralf Otto-Knapp: Natürlich verbesserte Lebensbedingungen mit mehr Hygiene und guter Ernährung. Und schließlich die Entwicklung wirksamer Medikamente. Das erste Antibiotikum, das gegen Tuberkulose half, war Streptomycin. Es wurde in den 1940er Jahren entdeckt. Danach wurden weitere Antibiotika erforscht und auf den Markt gebracht. Mittlerweile behandeln wir Tbc-Kranke sehr erfolgreich mit einer Kombination von vier Antibiotika. In den ersten zwei Monaten müssen alle vier eingenommen werden. Danach sind es in der Regel für weitere vier Monate nur noch zwei.
GPSP: Warum reicht nicht eins?
Ralf Otto-Knapp: Es ist schwierig, mit einem Wirkstoff die Erreger alle zu erwischen. Das ist aber wichtig, damit sich keine resistenten Bakterienstämme entwickeln, weiter vermehren und in der Bevölkerung ausbreiten. Resistente Bakterien haben ein genetisches Programm, das sie vor den normalerweise gut wirksamen Medikamenten schützt.
GPSP: Bevor wir später auf die Resistenzen zurückkommen, möchten wir zunächst wissen, was denn noch die Zahl der Tuberkulosekranken verringert hat?
Ralf Otto-Knapp: Die strikte Durchführung der Therapie.
GPSP: Was meinen Sie damit?
Ralf Otto-Knapp: Wer bei uns eine ansteckende Tbc hat, muss sie behandeln lassen, und die Behandlung wird überwacht. Das heißt, der Arzt oder die Ärztin muss die Erkrankung dem Gesundheitsamt melden. Die Patienten werden so lange isoliert, wie sie ansteckend sind – also in dem abgehusteten Sputum noch Erreger nachweisbar sind.
GPSP: Wie groß ist denn die Gefahr, sich mit Tbc zu infizieren?
Ralf Otto-Knapp: Dass man sich bei uns auf der Straße oder beim Einkauf ansteckt, ist sehr unwahrscheinlich. Dazu gibt es zu wenige Kranke mit offener Tbc.
GPSP: Kann ein Laie erkennen, ob jemand mit Husten eine ansteckende, also offene Tbc hat? Das möchte man vielleicht auf Fernreisen in Länder mit einer hohen Erkrankungsrate gerne wissen.
Ralf Otto-Knapp: Das zu erkennen ist schwierig. Denn die Symptome, etwa Husten, Müdigkeit und Appetitlosigkeit, sind leicht mit anderen Erkrankungen zu verwechseln. Typisch sind auch leichtes Fieber und Nachtschweiß. Viele Erkrankte bemerken diese Beschwerden gar nicht, und im Alltag fallen sie nicht auf.
GPSP: Und wie geht der Arzt oder die Ärztin vor, wenn ein Verdacht auf Tuberkulose besteht?
Ralf Otto-Knapp: Der Verdacht auf eine Lungentuberkulose wird in der Regel durch Röntgen festgestellt. Wenn es darum geht, eine offene Lungentuberkulose nachzuweisen, ist eine wichtige Frage, ob das Sputum Tbc-Bakterien enthält. Manchmal reicht der Blick durchs Mikroskop, manchmal muss man eine Kultur ansetzen, um die Erreger zu vermehren und sichtbar zu machen. Bevor man ein Ergebnis hat, vergeht allerdings einige Zeit. Zusätzlich versucht man heute, genetische Spuren der Bakterien zu finden. Die Lungenspiegelung, auch Bronchoskopie genannt, spielt erst dann eine Rolle, wenn der Bakteriennachweis aus dem Sputum nicht so einfach gelingt.
GPSP: Und wann ist ein Tuberkulintest sinnvoll?
Ralf Otto-Knapp: Bei Verdacht auf eine latente Tbc, das heißt auf eine Tbc-Infektion ohne Erkrankung. Fällt dieser Hauttest positiv aus, dann hatte der Betreffende wahrscheinlich schon mal Kontakt zu Tuberkulosebakterien. Bei einem positiven Ergebnis sollte man ausschließen, dass vielleicht doch eine Erkrankung vorliegt, und in speziellen Fällen ist eine vorbeugende Therapie erforderlich. Der Hauttest allein sagt jedenfalls noch nicht aus, dass der Betreffende erkrankt oder sogar ansteckend ist. Dasselbe gilt für so genannte IGRA-Tests. Diese Bluttests werden heute häufig anstelle des Hauttests verwendet.
GPSP: Nur einer von zehn Menschen, die sich irgendwann mit Tuberkulose angesteckt haben, erkrankt an Tbc. Woran liegt das?
Ralf Otto-Knapp: Meistens hat das Immunsystem die Erreger unter Kontrolle. Trotzdem erkranken einige Menschen gleich nach der Ansteckung und brauchen eine konsequente antibiotische Therapie. Neben dieser Primärtuberkulose gibt es auch eine spätere Reaktivierung von Erregerkomplexen in der Lunge oder anderen Organen, die das Immunsystem eigentlich abgekapselt und quasi unschädlich gemacht hatte. Diese Reaktivierung sehen wir beispielsweise bei Menschen, deren Immunsystem beispielsweise durch eine HIV Infektion oder eine immunsuppressive Therapie geschwächt ist. Auch Jahrzehnte nach einer unbemerkten Ansteckung kann eine Reaktivierung erfolgen.
GPSP: Erklärt die Rolle der körpereigenen Abwehr auch, warum HIV-Kranke oft an Tuberkulose erkranken?
Ralf Otto-Knapp: Unbedingt. Denn ihr Immunsystem ist beeinträchtigt. Wir wissen, dass Menschen mit HIV besonders anfällig für Tuberkulose sind und dass Tuberkulosekranke häufiger mit HIV infiziert sind. In einem so genannten Niedrigprävalenzland wie Deutschland, in dem sowohl Tbc als auch HIV selten sind, kommt diese Ko-Infektion allerdings selten vor.
GPSP: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) will die Tuberkulose bis 2050 überwinden. Ein Fahrplan liegt vor, aber das Projekt scheint schwer zu bewältigen. Warum?
Ralf Otto-Knapp: Es ist nun mal so, dass es Länder gibt, in denen Tbc noch stark verbreitet ist. Weiterhin sind multiresistente Bakterienstämme ein Problem. Sie machen die Therapie schwieriger, langwieriger und auch kostspieliger, was in finanziell schlechter gestellten Regionen ein wichtiger Faktor ist.
GPSP: Wie kommt es zu Resistenzen oder gar Multiresistenzen?
Ralf Otto-Knapp: Wer an Tbc erkrankt ist, muss die verordneten Medikamente über die gesamte Therapiedauer in der vorgeschriebenen Dosis einnehmen. Das passiert aber nicht immer, weil man sich oft relativ rasch besser fühlt oder mit unerwünschten Wirkungen zu tun hat und so die Therapietreue nachlässt. Darum ist die Überwachung der Therapie wichtig. Aber nicht jeder Staat kann die garantieren. Manchmal kommt es auch zu Lieferengpässen, so dass Tbc-Kranke ihre Medikamente nicht regelmäßig bekommen. Das kann die Entwicklung von Resistenzen fördern.
GPSP: Und was bedeutet das für die Therapie?
Ralf Otto-Knapp: Sind Tuberkulosekranke – genauer gesagt die Bakterien – gegen die zwei wichtigsten Antibiotika, Isoniazid und Rifampicin, resistent, dann müssen wir so genannte Zweitlinien-Antibiotika verordnen, die über etwa zwei Jahre eingenommen und teilweise injiziert werden müssen. Diese haben mehr uner-wünschte Wirkungen. Die Therapie erfolgt zunächst im Krankenhaus. Besonders schwer zu behandeln sind Tbc-Kranke, die auch gegen einige Zweitlinien-Antibiotika resistent sind. Um die Heilungschancen dieser Patienten zu verbessern, werden aktuell glücklicherweise neue Medikamente erprobt.
GPSP: Wenn in Deutschland Kontrolle und Therapie eigentlich sehr effektiv sind, wie kommt es dann, dass Tbc nicht bereits verschwunden ist?
Ralf Otto-Knapp: Die Bevölkerung ist heute sehr mobil, und eine Abgrenzung zu unseren Nachbarstaaten mit teilweise höherer Tbc-Prävalenz ist weder möglich noch wünschenswert. Man muss die Tuberkulose als weltweites Problem betrachten, auch wenn wir das Glück haben in einem Land mit derzeit wenig Tbc-Kranken zu leben.
GPSP: Aber wir leben nicht auf einer Insel. Heißt das auch, dass Migration ein Problem ist?
Ralf Otto-Knapp: Migration ist auf keinen Fall ein Problem, aber eine Herausforderung. Das deutsche Gesundheitswesen macht dabei hervorragende Arbeit. Die zunehmenden Flüchtlingsströme erfordern allerdings eine besondere politische und finanzielle Unterstützung.
GPSP: Werden denn Neuankömmlinge mit Tuberkulose erfasst und behandelt?
Ralf Otto-Knapp: Aktuell sind die Anstrengungen groß, allen Asylsuchenden mit einer Tbc-Infektion zu helfen. Das Hauptaugenmerk richtet sich dabei auf die Weiterverbreitung in Sammelunterkünften. Andere Flüchtlinge sind gefährdet, sich dort zu infizieren. Dass Tbc sich dadurch in der Bevölkerung ausbreitet, ist derzeit nicht erkennbar.
GPSP: Und welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Deutsche Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose, kurz DZK?
Ralf Otto-Knapp: Wichtig ist, einem erkrankten Migranten in seiner Muttersprache die wesentlichen Informationen zur Therapie und zur Vermeidung weiterer Ansteckungen zu vermitteln. Dazu haben wir mehrsprachige Merkblätter entwickelt.2 Außerdem nehmen wir an einem Multimedia-Projekt des Forschungszentrums Borstel teil. „ExplainTB!“ stellt Patienteninformationen in vielen Sprachen als App oder über die Internetseite kostenfrei zur Verfügung.3
GPSP: Herr Otto-Knapp, vielen Dank für das Gespräch. Und wir wünschen allen Organisationen, die sich um die Gesundheit von Flüchtlingen und Migranten kümmern, mehr finanzielle und personelle Unterstützung.
Stand: 25. August 2015 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 05/2015 / S.19