Esketamin gegen Depressionen
Nutzen sehr umstritten, Risiken beträchtlich
In den USA ist das Antidepressivum Esketamin bereits seit Anfang 2019 zugelassen, in Deutschland ist es erst seit 2021 verfügbar. Manche Befürworter feierten das Mittel als therapeutischen „Durchbruch“1 – allerdings nur, weil es anders wirkt als bisherige Antidepressiva. Doch ein neuer Wirkungsmechanismus allein macht noch kein nützliches Arzneimittel, dafür braucht es aussagekräftige Ergebnisse aus verlässlichen Studien. Und im konkreten Fall wirft die Datenlage viele Fragen auf.
Ganz neu ist Esketamin übrigens nicht: Es ist chemisch sehr eng verwandt mit Ketamin, das seit vielen Jahren als Narkose- und Schmerzmittel vor allem bei Operationen eingesetzt und dabei direkt in die Vene verabreicht wird.
Kurz- und längerfristig
Esketamin bei Depression wird dagegen ein- bis zweimal wöchentlich in die Nase gesprüht. Zugelassen ist es für zwei Zwecke: Zum einen für die Behandlung bei Patient:innen in einer mittelschweren oder schweren Episode einer Depression, denen mindestens zwei andere Antidepressiva nicht ausreichend geholfen haben. Fachleute bezeichnen das auch als behandlungsresistente Depression. Zum anderen kann Esketamin aber auch im Notfall eingesetzt werden, wenn ein Mensch mit Depression daran denkt, sich das Leben zu nehmen.
Nutzen umstritten
Wie gut Esketamin für diese Zwecke tatsächlich hilft, ist aber nicht ganz klar: Seine Zulassung für die Behandlung von Depressionen beruht hauptsächlich auf drei kürzeren Studien – aber nur in einer wirkt das Mittel ein bisschen besser als ein Placebo. Ob es Selbsttötungen tatsächlich verhindern kann, ist unklar: Mit Esketamin nahmen sich drei Studienteilnehmende das Leben, mit Placebo niemand. Ob das ein tatsächlicher oder nur ein zufälliger Unterschied zuungunsten von Esketamin ist, lässt sich aber nicht sicher sagen. Hinzu kommt, dass die Studien mit einer Laufzeit von vier Wochen eher kurz waren. Üblich ist für dieses Anwendungsgebiet eine Dauer von mindestens sechs Wochen.
In einer weiteren Studie zur Langzeitbehandlung hatten Patient:innen, die weiter Esketamin einnahmen, weniger Rückfälle, allerdings beruht dieses Ergebnis maßgeblich auf den Daten aus einer einzigen Klinik – bei den anderen beteiligten Kliniken fand sich kein positiver Effekt.2
In der Notfallbehandlung nahmen mit Esketamin depressive Beschwerden zwar schneller ab als mit Placebo, bei Suizid-Neigungen gab es allerdings keinen Unterschied.
Kritik an FDA
Die Zulassung in den USA war umstritten: So weisen Kritiker: innen etwa darauf hin, dass die zuständige Behörde FDA bei den Studien eine relativ breite Definition von „therapieresistenter Depression“ akzeptiert hatte: So erhielten rund 20 Prozent der Teilnehmenden zuvor nur Wirkstoffe aus einer einzigen Wirkstoffklasse, obwohl ein Wechsel auf eine andere Klasse auch eine sinnvolle Möglichkeit gewesen wäre. Und auch eine Psychotherapie als Behandlungsoption war wohl nicht ausreichend ausgeschöpft. Ob Esketamin bei älteren Menschen hilft, ist den Studiendaten zufolge ebenfalls fraglich.2
Im Vergleich?
Unklar ist übrigens auch, wie gut Esketamin im Vergleich zu den in Deutschland üblichen Behandlungsstandards bei therapieresistenter Depression hilft, etwa der zusätzlichen Einnahme von Lithium beziehungsweise Quetiapin oder der Kombination mit einem zweiten Antidepressivum. Denn das wurde bislang nicht untersucht. Aus diesem Grund hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in seiner frühen Nutzenbewertung Esketamin für die Depressionsbehandlung vorerst keinen Zusatznutzen zuerkannt. Allerdings läuft derzeit noch eine Studie, die Esketamin mit Quetiapin vergleicht. 2023 wird der Zusatznutzen deshalb erneut bewertet.
Für die Notfallbehandlung hat der G-BA Esketamin einen Anhaltspunkt für einen geringen Zusatznutzen zuerkannt – allerdings nur wegen des Effekts auf depressive Symptome. Ob das Mittel besser vor Selbsttötungen schützt als bisherige Behandlungsmöglichkeiten, ist bislang nicht belegt – obwohl die akute Suizidgefahr der eigentliche Grund für die Einstufung als Notfall ist.
Riskante Nebenwirkungen
Allerdings weist die Nutzenbewertung auch darauf hin, dass einige unerwünschte Effekte mit Esketamin häufiger auftreten als mit Placebo: etwa Schläfrigkeit, Schwindel, Blutdruckanstieg und Magen-Darm-Probleme. Deutlich gravierender sind jedoch psychiatrische Symptome, die bei knapp der Hälfte der Patient:innen mit Esketamin auftraten – aber nur bei jedem Fünften mit Placebo. So berichteten Studienteilnehmende etwa über Wahrnehmungsstörungen, Halluzinationen und ein vorübergehendes Entfremdungsgefühl von der Umgebung und der eigenen Person.
Nur unter Überwachung
Aus diesem Grund bekommen Patient:innen das Esketamin-Nasenspray auch nicht mit nach Hause, sondern müssen es unter ärztlicher Aufsicht anwenden. Danach folgt eine zweistündige Überwachung, um bei psychischen Problemen oder Blutdruckentgleisungen schnell einschreiten zu können. Autofahren ist erst wieder am nächsten Tag möglich.
Vorsicht Missbrauch
Die Produktinformationen weisen auch auf das Sucht- und Missbrauchspotenzial von Esketamin hin. Das ist bereits von Ketamin bekannt, das seit den 1970er-Jahren wegen seiner halluzinogenen Wirkung als Freizeit- und Partydroge („Special-K“) gehandelt wird. Besonders Patient:innen, die bereits zuvor mit Suchtproblemen zu tun hatten, sind gefährdet.
Bilanz: Eher ungünstig
Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft hält das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Esketamin nach den bisherigen Studiendaten für eher ungünstig.3 Wegen des unsicheren Nutzens und der erheblichen Nebenwirkungen hat auch das britische Institut für Arzneimittelbewertung NICE bislang keine Empfehlung für Esketamin ausgesprochen.4 Unsere französische Schwesterzeitschrift „Prescrire“ stuft das Antidepressivum sogar als „gefährliches Medikament“ ein.5
Depression
GPSP 1/2008, S. 12
Suizid
GPSP 2/2013, S. 10
Lithium
GPSP 6/2014, S. 10
Frühe Nutzenbewertung
GPSP 3/2021, S. 18
Stand: 1. November 2021 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2021 / S.16