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Zwänge – Zwischen ziemlich normal und ziemlich krank

Dieses Gefühl stellt sich schon nach wenigen Seiten ein: Da hat jemand ein Buch geschrieben, der als Betroffener weiß, wovon er redet, der sich rundum sachkundig gemacht hat und der außerdem gut schreiben kann. Kein Wunder, der Autor David Adam ist Wissenschaftsjournalist, hat für Nature und den Guardian gearbeitet, und die Vereinigung der Britischen Wissenschaftsautoren hat ihn zum Feuilletonisten des Jahres gekürt. Soweit, so übersichtlich.

David Adam, Zwanghaft. Wenn obsessive Gedanken unseren Alltag bestimmen, dtv, 2015, 300 Seiten, 16,90

Das Thema, das Adam sich vorgenommen hat, ist allerdings kompliziert und unübersichtlich. Viel zu kurz greift nämlich, wer beim Thema Zwangsstörungen nur an Waschzwang denkt. Den Autor selbst plagt zum Beispiel seit Jahren die Vorstellung, sich durch winzige Wunden Aids einzuhandeln und die eigene Tochter zu infizieren. Darum ist er immer wieder damit beschäftigt, eventuelle Ansteckungsquellen zu kontrollieren. Adam beschreibt nicht nur, wie sich der Terror durch solche Zwänge anfühlt, ihm geht es auch darum, dass viele Menschen aufdringliche, möglicherweise „verbotene“ Gedanken haben – ohne dass sie psychisch krank sind.

Zur unerträglichen Belastung werden Zwangsvorstellungen erst, wenn sie sich immer wieder durchsetzen, ein unpassendes oder „unmögliches“ Verhalten erzwingen und ganz erheblich den Alltag bestimmen. Dann handelt es sich um eine psychische Erkrankung, die förmlich nach einer Behandlung schreit. Wertvoll an dem Buch ist, dass Adam die ganze Bandbreite des „Zwanghaften“ aufzeigt, das Kontinuum zwischen noch gesund und schon krank. Interessant ist in diesem Zusammenhang sein Ausflug in das diagnostische Handwerkzeug der Psychiatrie, das anhand von Symp-tomen psychisch Kranke einzelnen Kategorien zuordnet. Deren Tauglichkeit stellt David Adam wohlbegründet in Frage.

Natürlich fragt der Autor auch nach den Ursachen zwanghafter Gedanken, die unser hoch entwickeltes Gehirn produziert und die manchmal Denken und Handeln total bestimmen, und zwar obgleich viele Betroffene durchaus wissen, dass sie sinnlos sind. Die Evolution von Hirnfunktionen, Gene, Erziehung, belastende Ereignisse, Mobbing, Infektionen und vieles mehr können eine Rolle bei Zwangsstörungen spielen. Können! Einen einfachen Kausalzusammenhang kann derzeit niemand präsentieren, darum lässt Adam die Erklärungsbemühungen aus früheren Jahrhunderten und die aktuelle Forschung an uns vorüberziehen. Und das macht er spannend.

Auch bei der Erklärung der diagnostischen Schritte und der Therapieansätze – von der Psychoanalyse über Psychopharmaka und Hirnchirurgie bis zur kognitiven Verhaltenstherapie – nimmt er uns elegant mit. Und immer wieder geht er von seinen erlebten Erfahrungen aus. Adam sagt klipp und klar, dass er keinen Ratgeber geschrieben hat. Es ist eher ein bio-grafisch gefärbter Bericht über das, was wir heute über Zwangsstörungen wissen – und was nicht. Dabei stützt sich der Autor auf Einzelberichte und Studienergebnisse, die eher unterhaltsam eingesprenkelt sind. Am Ende der Buchs gibt es nützliche Hinweise für Ärzte und Menschen, die unter einer Zwangsstörung leiden. Bedauerlich ist, dass der Sprache des Buches hier und da die Übersetzung aus dem Englischen anzumerken ist. Das Original heißt übrigens leicht und treffend „The man who couldn’t stop“.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 04/2015 / S.16