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Wenn die Schilddrüse zu viel Hormon produziert – oder zu wenig

Die Hormone der Schilddrüse steuern viele lebenswichtige Organfunktionen, darunter die Herzaktivität und den gesamten Stoffwechsel. Und Regelkreise kontrollieren wiederum die Aktivität der Schilddrüse. Aber manchmal gerät sie außer Rand und Band. Das kann zum Beispiel am Jodmangel liegen oder das eigene Immunsystem traktiert die Schilddrüse. Was wichtige Ursachen für eine Überfunktion oder Unterfunktion sind und wie Erkrankungen behandelt werden, fragten wir den Schilddrüsenspezialisten Reinhard Finke.

GPSP: Wenn Sie auf Ihre lange Erfahrung als Endokrinologe zurückblicken, was hat sich geändert? Nehmen bestimmte Schilddrüsenerkrankungen ab oder zu?

Finke: Früher gab es viel mehr Menschen mit einem Kropf, Ärzte sprechen da von Struma. Jeder dritte Deutsche hat einen Kropf oder Knoten in der Schilddrüse, weil lange Zeit im Schnitt täglich nur etwa 30 bis 35 Mikrogramm Jod aus der Nahrung aufgenommen wurden. Heute sind wir bei etwa 135 Mikrogramm und haben uns nach Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von einem Grad-III-Mangel auf einen Grad-I-Mangel verbessert. Die WHO findet, 200 bis 250 Mikrogramm sind gesund. Als Folge der besseren Jodversorgung beobachten wir heute deutlich seltener Strumen.

GPSP: Also eine erfreuliche Entwicklung, die vermutlich auf das Konto der Jodierung von Speisesalz geht.

Finke: Ja. Vor allem die jetzt aufwachsende Generation wird davon profitieren. Kröpfe werden seltener. Die Häufigkeit einer Überfunktion durch die Basedowsche Krankheit, die als Attacke des eigenen Immunsystems zu verstehen ist und weniger mit Jod zu tun hat, hat sich demgegenüber nicht verändert.

GPSP: Bevor wir darauf genauer zu sprechen kommen, wie sieht es bei der Unterfunktion aus?

Finke: Die Diagnosen haben hier insgesamt zugenommen. Das liegt auch daran, dass bestimmte Testverfahren – also Antikörperbestimmungen – sehr verbreitet und auch einfach zu machen sind.

GPSP: Aber es wird doch nicht nur nach Antikörpern geschaut?

Finke: Natürlich nicht. Noch wichtiger ist der Messwert TSH. Dieses Hormon stammt aus der Hirnanhangdrüse, die ständig aus dem Blut ermittelt, wie viel Schilddrüsenhormon in Umlauf ist beziehungsweise gebraucht wird. TSH stimuliert die Schilddrüse, das besagt schon das Kürzel: Thyreoidea (= Schilddrüse) stimulierendes Hormon. Ein hoher im Labor gemessener TSH-Wert ist ein Hinweis auf eine mögliche Unterfunktion.

GPSP: Weil die Hirnanhangdrüse gewissermaßen sagt „Hey, Schilddrüse da ist zu wenig Schilddrüsenhormon im Blut, produzier‘ mal mehr!“

Finke: So könnte man das ausdrücken. Das Problem ist aber, dass die Definition, was ein erhöhter Wert ist, strittig ist. Außerdem haben sehr junge Leute und dicke Menschen meist höhere TSH-Werte, und die Messungen schwanken, so dass ein einzelner Messwert wenig aussagt, wenn er nur gering erhöht ist. Zu uns Endokrinologen kommen immer wieder Patienten, die wegen einer angeblichen Unterfunktion das Schilddrüsenhormon L-Thyroxin als Präparat einnehmen, obwohl sie es eigentlich nicht brauchen.

GPSP: Eigentlich ein klassischer Fall von Überdiagnose und Übertherapie.

Finke: Ja, aber es sind immerhin 30 von 1.000 Personen, die eine Unterfunktion haben oder entwickeln – darunter deutlich mehr Frauen als Männer.

GPSP: Und wie kommt es zur Unter­funktion?

Finke: Meist durch eine chronische Entzündung der Schilddrüse, die von Antikörpern des eigenen Immunsystems angegriffen wird. Diese so genannte Hashimoto-Thyreoiditis beginnt oft mit einer sichtbaren Vergrößerung der Schilddrüse und einer Art Überfunktion, aber nicht immer. Die chronische Entzündung führt aber längerfristig zu einem Untergang des Gewebes, die Schilddrüse schrumpft.

GPSP: Wie kommt es noch zur Unterfunktion?

Finke: Oft sind Patienten nach einer Operation betroffen, weil der Chirurg die ganze Schilddrüse entfernen musste. Außerdem zieht man es heute vor, das Drüsengewebe komplett zu entfernen, wenn kalte Knoten (siehe links) in beiden Lappen der Schilddrüse sind oder eine Basedowsche Erkrankung besteht. Früher nahm der Operateur nur den Knoten weg, aber heute möchte man unbedingt verhindern, dass restliches Gewebe doch wieder anfängt zu wachsen und nochmal operiert werden muss. Der Nachteil der radikaleren Vorgehensweise ist, dass die Patientin oder der Patient danach lebenslang das fehlende Schilddrüsenhormon L-Thyroxin einnehmen muss.

GPSP: Passiert das auch bei der Radiojodtherapie, die ja oft gegen heiße Knoten und bei genereller Überfunktion eingesetzt wird?

Finke: Ja. Praktisch regelhaft, wenn die ganze Schilddrüse von innen bestrahlt werden muss – wie bei der Basedowschen Krankheit – und eher nicht bei nur einzelnen heißen Knoten.

GPSP: Damit sind wir bei der Überfunktion, die ja nicht nur chirurgisch oder mit Radiojod behandelt wird, sondern auch mit Medikamenten. Was sind die häufigsten Ursachen einer Überfunktion?

Finke: Die Ursachen sind unterschiedlich (siehe Kasten). In Jodmangelgebieten bildet sich bei vielen Menschen ein Kropf und der ist die Hauptursache für eine ungeregelte Funktion, der Autonomie bestimmter Schilddrüsenbereiche.

GPSP: Beim Kropf wächst die gesamte Schilddrüse, aber was bedeutet Autonomie?

Finke: Das sind Bereiche, in denen zu viel Hormon produziert wird. Diese schon erwähnten heißen Knoten entziehen sich der Kontrolle durch das TSH der Hirnanhangdrüse.

GPSP: Sie machen also, was sie wollen, und sind nicht am eigentlichen Bedarf orientiert. Was hilft dagegen?

Finke: Bei einzelnen heißen Knoten ist die Radiojodtherapie optimal: gezielt, ohne Schnitt, ohne Narkose. Und in der Regel benötigt die Patientin oder der Patient hinterher kein Arzneimittel. Man zerstört die Knoten praktisch von innen.

GPSP: Aber warum muss man dazu in Deutschland für ein paar Tage ins Krankenhaus?

Finke: Das Radiojod bleibt ja nicht in der Schilddrüse, sondern wird wieder im Urin ausgeschieden. Vom Krankenhaus gelangt es nicht unmittelbar in die öffentliche Kanalisation.

GPSP: Also in die Klinik der Umwelt zu liebe! Kommen wir zur Basedowschen Krankheit. Wie kommt es dazu, dass sich nicht ein einzelner Bereich knotig verdichtet, sondern die ganze Schilddrüse wächst?

Finke: Beim Basedow ist die Schilddrüse sozusagen das Opfer von Antikörpern des eigenen Immunsystems. Diese koppeln an den TSH-Rezeptor – also den, der normalerweise auf das Hormon aus der Hirnanhangdrüse anspricht und die Schilddrüse zur Thyroxinproduktion anregt. Doch diese Antikörper stimulieren den Rezeptor praktisch permanent und nicht in Abhängigkeit vom Bedarf des Körpers.

GPSP: Die Kontrolle durch die Hirnanhangdrüse ist damit ausgehebelt.

Finke: Genau, und durch die ständige Stimulation der TSH-Rezeptoren durch die Antikörper (TRAk) wächst die ganze Schilddrüse und reagiert überall mit einer ungehemmten Überproduktion von Schilddrüsenhormon.

GPSP: Sie erwähnten schon die Radiojodtherapie als Behandlungsmöglichkeit, was bewirken Medikamente?

Finke: Manche Schilddrüsenmedikamente, die so genannten Thyreostatika wie Thiamazol, Carbimazol oder Propylthiouracil, fahren die Hormonproduktion herunter, indem sie verhindern, dass Jod in Thyroxin eingebaut wird. Das Perchlorat verhindert hingegen, dass Jod überhaupt in der Schilddrüse vorrätig ist. Dadurch fehlt es für die Hormonsynthese.

GPSP: Was ist der Vorteil einer medikamentösen Therapie beim Basedow?

Finke: Die thyreostatischen Wirkstoffe müssen von Patienten in der Regel nur zeitlich begrenzt eingenommen werden. Anfangs muss das Labor engmaschig den Hormonspiegel bestimmen, damit wir die Medikamente richtig dosieren. Wenn das gut gelingt und die Antikörper, die den TSH-Rezeptor stimulieren, weniger werden, versucht man als Arzt mit der Dosierung herunter zu gehen und – wenn sie ganz verschwinden – abzusetzen, denn dann braucht der Patient keine Thyreostatika mehr.

GPSP: Wer braucht nach überstandener Erkrankung ebenfalls keine Medikamente mehr?

Finke: Patienten, die einen heißen Knoten hatten und so behandelt wurden, dass das restliche Gewebe genug Hormone produziert. Anders ist das bei Basedow-Patienten, wenn nach einer (fast) totalen OP oder der Radiojodbehandlung kein Schilddrüsengewebe mehr vorhanden ist. Sie müssen lebenslang Thyroxin schlucken und sollten einmal im Jahr oder alle zwei Jahre zur Kontrolle kommen, wenn sie erstmal gut eingestellt sind. Viele kommen damit übrigens gut zurecht.

GPSP: Was machen Patienten falsch?

Finke: Ich warne immer davor, nicht zur Kontrolle zu gehen. Das gilt gerade auch beim Basedow. Wer etwa Thiamazol oder Carbimazol einnimmt, muss anfangs mindestens alle 3 bis 4 Wochen und später alle 6 bis 8 oder auch 12 Wochen kommen. Tut er das nicht, nimmt er leicht eine zu hohe Dosis ein und bekommt dadurch eine Unterfunktion und ein Strumawachstum. Wenn alles gut läuft, reagiert der Körper auf die Medikamente rasch und braucht mit der Zeit immer weniger davon. Vor allem sollten Basedow-Erkrankte nicht rauchen. Denn das verschlimmert die Erkrankung und – ohne dass wir wissen warum – sind die krankheitstypisch hervortretenden „Glotzaugen“ viel ausgeprägter.

GPSP: Unerwünschte Wirkungen haben Medikamente gegen eine Überfunktion natürlich auch.

Finke: Klar, keine Wirkung ohne Nebenwirkung. Am häufigsten sind Hautallergien und Gelenkbeschwerden, beides ist abhängig von der Wirkstoffdosis. Selten sind Gefäßentzündungen und Geschmacksstörungen. Richtig gefährlich können Blutbildstörungen werden, die durch starken Abfall der weißen Blutkörperchen und meist durch Fieber und Halsschmerzen auffallen. Aber Blutbildstörungen sind eine Rarität.

GPSP: Darauf müssen Patienten vorbereitet sein.

Finke: Unbedingt, und Ärzte müssen das Medikament sofort absetzen und zu einem anderen wechseln. Der Wirkstoff Propylthiouracil kann zudem die Leber schädigen. Anderseits bevorzugen wir ihn im ersten Drittel der Schwangerschaft, weil er weniger fruchtschädigend sein soll. Als Internist bin ich besonders froh, dass eine Basedowsche Erkrankung nach ein, zwei Jahren Arzneimitteltherapie bei vielen Patienten verschwunden ist.

GPSP: Herr Finke, vielen Dank für ihre Einführung in die komplexe Steuerung der Schilddrüsenfunktion und die therapeutischen Möglichkeiten.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 04/2014 / S.19