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Pflaster für den Darm?

Was hinter der Kijimea-Werbung steckt

Diese Geschichte beginnt bei den Fernsehnachrichten und endet bei alten Bekannten. Bei der Recherche zum Nutzen eines gegen Reizdarm angepriesenen Präparats wird mal wieder deutlich: Wer mit der Krankheit anderer Geschäfte machen will, dem bietet die aktuelle Gesetzeslage viele Möglichkeiten.

Kiji-was? Eigentlich unmöglich, dass Ihnen diese Werbung im Fernsehen noch nicht begegnet ist, zum Beispiel vor den Nachrichten. In den Werbespots wirbt der Hersteller eines Präparats gegen Reizdarm-Beschwerden wie Bauchschmerzen, Durchfall und Blähungen. Und natürlich erspart das Mittel – zumindest in der Werbung – Menschen die Peinlichkeit, von ihren Kindern oder Enkeln auf die ständigen Pupse oder Klogänge angesprochen zu werden.

GPSP Cartoon Pflaster für den Darm?
© Thomas Kunz

Exotik gegen ein peinliches Problem

Mit dem klingenden Namen „Kijimea Reizdarm PRO“ hat der Hersteller nach Werbe-Maßstäben zumindest schon mal Vieles richtig gemacht: Der Name „Kijimea“ erzeugt einen Hauch Exotik – nach Auskunft des Herstellers bedeutet das in der ostafrikanischen Sprache Swahili „Bakterium“. Und PROfessionell soll es doch bitteschön zugehen, wenn kranke Menschen behandelt werden.

Aber warum steht da eigentlich der kleine Aufdruck „Medizinprodukt“ auf der Schachtel? Medizinprodukte – das sind doch Dinge wie Fieberthermometer und Verbandmaterial. Ach ja, deshalb heißt es wahrscheinlich in der Werbung „Pflaster für den Darm“: Schluss mit dem Gepupse, einfach ein Pflaster auf den… Nein, ganz so ist es offensichtlich doch nicht gemeint – schließlich sind in der Packung ja Kapseln enthalten, die zum Schlucken gedacht sind.

Nicht witzig

Eigentlich hätte sich diese Werbung auch prima für unsere Glosse geeignet. Aber das Lachen vergeht einem, wenn man den Windungen der Geschichte bis in die Details folgt. Übrig bleibt dann ein ungläubiges Staunen, was im vermeintlich gut geregelten Gesundheitsmarkt legal möglich ist.

Was erlaubt ist

Kijimea1 als Mittel bei Reizdarm gibt es inzwischen in zwei Varianten (Kijimea Reizdarm und Kijimea Reizdarm PRO). Beide enthalten das Bakterium Bifidobacterium bifidum MIMBb75: Kijimea Reizdarm, das ältere Produkt, in Form von lebendigen Bakterien, das neuere Produkt Kijimea Reizdarm PRO in einer durch Hitze inaktivierten Form. Hier sind die Bakterien abgetötet, also nicht mehr vermehrungsfähig. Aha. Aber ist lebendig nicht eigentlich besser als tot? Und warum wird Kijimea ausgerechnet als Medizinprodukt vertrieben?

Zumindest die Antwort auf die letzte Frage lässt sich relativ schnell finden: Denn der Vertrieb als Medizinprodukt eröffnet im Gegensatz zu anderen Einstufungen weitere Werbemöglichkeiten:

Wer beim Marketing richtig dick auftragen will, wird als Anbieter von Nahrungsergänzungsmitteln nämlich nicht wirklich glücklich. Gelten die doch als Lebensmittel und dürfen deshalb nicht mit der Wirksamkeit gegen Krankheiten beworben werden. Schlecht für den Umsatz.

Werben mit Krankheiten dürfen Anbieter von Arzneimitteln. Kleiner Haken: Wer Arzneimittel auf den Markt bringt, muss Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit mit gut gemachten Studien belegen. Langwierig, kostspielig und längst nicht immer von Erfolg gekrönt.

Da schlägt die Stunde der Medizinprodukte: Die Anbieter dürfen mit der Wirksamkeit bei Krankheiten werben. Und bislang gab es bei vielen Medizinprodukten in Sachen „nützt es überhaupt?“ nicht so strenge Regeln wie für Arzneimittel. Wenn es also irgendwie gelingt, das Präparat als Medizinprodukt durchzukriegen, ist der Anbieter fein raus.

Probiotika bei Reizdarm

An dieser Stellschraube setzt die Werbung für Kijimea bei Reizdarm an: Der Anbieter behauptet, dass sich die Bakterien an die Darmwand anheften und so eine Barriere gegen Stoffe bilden, die den Darm ärgern. Das soll signalisieren: Unser Produkt wirkt gar nicht wie ein Arzneimittel, sondern nur rein physikalisch. Denn das ist die Voraussetzung dafür, dass ein Mittel als Medizinprodukt auf dem Markt sein darf und keine aufwendige Zulassung als Arzneimittel braucht.

Interessant nur, dass eigentlich noch gar nicht vollständig geklärt ist, wie eigentlich ein Reizdarmsyndrom entsteht und was dabei im Darm nicht richtig funktioniert.2

Probiotika: Nicht mehr als Medizinprodukt

Künftig werden die Wirksamkeitsanforderungen für einige Medizinprodukte durch eine neue EU-Verordnung strenger.3 Und, oh Schreck: In der neuen Medizinprodukte-Verordnung steht explizit, dass lebende Mikroorganismen, sprich Probiotika, ab Mitte 2021 gar nicht mehr als Medizinprodukte vertrieben werden dürfen. Da hat wohl jemand in der Gesetzgebung den Trick durchschaut.

Aber es gibt noch andere Wege: Wir haben den Anbieter gefragt, was denn angesichts der neuen Verordnung aus seinem Präparat wird. Der hat noch ein Ass im Ärmel: Die Bakterien in der PRO-Variante seien nicht mehr vermehrungsfähig und gelten daher nicht als lebende Mikroorganismen im Sinne der Verordnung – das Produkt sei also gar kein Probiotikum. Dem weiteren Vertrieb als Medizinprodukt stehe bei der PRO-Variante also nichts im Wege.4

Gesetz mit Sollbruchstellen

Das hat uns auf Nachfrage auch die zuständige Aufsichtsbehörde bestätigt. Wobei es uns schon fraglich erscheint, ob „Aufsicht“ tatsächlich das richtige Wort ist. Denn bei Medizinprodukten in niedrigeren Risikoklassen hat der Gesetzgeber die Bewertung in die Hand von privatwirtschaftlichen Unternehmen gegeben, die heißen „Benannte Stellen“. Sie prüfen, ob die Produkte den gesetzlichen Anforderungen entsprechen – verdienen allerdings ihr Geld damit, dass die Anbieter immer wieder Gutachten bei ihnen in Auftrag geben. Da sind Interessenkonflikte also vorprogrammiert.

Und die Aufgabe der Behörde dabei? Die lässt uns mitteilen, dass bei Medizinprodukten die Anbieter für das Einhalten der Vorschriften zuständig seien, „weshalb das Einschreiten des Staates auf ein unentbehrliches Mindestmaß beschränkt ist.“ Medizinprodukte-Anbieter müssen ihre Unterlagen inklusive Zertifikat der Benannten Stelle nur in ein Online-Portal einstellen, also den Markteintritt anzeigen, und schon kann der Vertrieb loslegen. Die Behörde dazu: „Erscheinen die in der Anzeige zur Verfügung gestellten Informationen plausibel, werden keine weitergehenden Unterlagen angefordert.“5 Aber ob etwas plausibel erscheint oder nicht, ist natürlich auch eine Frage davon, wie genau man hinschaut…

Zwei Studien…

Aber wie gut ist der Nutzen des Mittels bei Reizdarm denn wirklich belegt? Der Anbieter führt dazu zwei Studien an: eine für die ältere Variante mit rund 120 Teilnehmenden,6 eine für die PRO-Variante mit etwa 440 Teilnehmenden.7 Verglichen wurde jeweils das Produkt mit einem Placebo, dabei wurden die Teilnehmenden nach dem Zufalls­prinzip einer von beiden Behandlungen zugeteilt. In beiden Studien schneidet die Behandlung mit Kijimea in der Auswertung auf den ersten Blick besser ab als Placebo.8

…und viele offene Fragen

Allerdings gibt es mit der Auswertung einige Probleme: In der Studie mit der älteren Variante wird für gut die Hälfte der Teilnehmenden mit Kijimea Reizdarm und rund jedem Fünften mit Placebo ein Behandlungserfolg verbucht. Allerdings sind die Kriterien für den Behandlungserfolg sehr großzügig gefasst, sodass auch ein eher kleiner Effekt als positives Ergebnis gilt. Ob die Betroffenen das im Alltag als bedeutsam erleben, bleibt unklar.

In der Studie mit der neueren PRO-Variante ist „Behandlungserfolg“ etwas strenger definiert. In der Auswertung ist zwar ein Unterschied zu Placebo sichtbar,9 aber überragende Behandlungserfolge sehen anders aus: Zwei von drei Behandelten geht es mit dem neuen Mittel nicht besser. Da die Beschwerden auch ohne den Wirkstoff – also nur mit Placebo – abnehmen, bringt das Mittel nur für etwa jeden Siebten einen Vorteil.10

Hinzu kommt: In der Untersuchung mit der PRO-Variante fällt auf, dass mit rund 15 Prozent der Teilnehmenden relativ viele die Studie vorzeitig abbrechen.11 Das schränkt die Aussagekraft der Studie weiter ein.

Übrigens: Dass die PRO-Variante – wie in der Werbung behauptet – tatsächlich „40 % wirksamer“ wäre als das ältere Produkt, lässt sich nach Einschätzung des arznei-telegramm® mit den Studienergebnissen nicht ausreichend belegen.8

Und langfristig?

Ob das Produkt Menschen mit Reizdarm tatsächlich relevant hilft, ist also fraglich. Hinzu kommt: Die Gebrauchsinformation empfiehlt eine Anwendung von zwölf Wochen oder länger. Die Studien dauerten aber nur vier beziehungsweise acht Wochen.12 Diese Diskrepanz ist offenbar bei der Benannten Stelle niemandem aufgefallen, und auch die Behörde hat keine Zweifel an der Plausibilität. Bei Reizdarm bestehen die Beschwerden in der Regel langfristig. Über den Nutzen einer längeren Behandlung erlauben die Studien also keine Rückschlüsse.

Gleiches gilt auch für die Verträglichkeit: Zwar zeigten sich in den Studien keine anderen unerwünschten Effekte als mit Placebo. Ob das bei längerer Anwendung aber noch genauso ist, bleibt offen.

Delphin frisst Geldscheine
© Astrid860/iStock

Stolzer Preis

Der Nutzen ist also, wenn überhaupt, eher klein und viele Fragen sind offen. Dafür ruft der Anbieter aber recht stolze Preise auf: Pro Kapsel liegt die unverbindliche Preisempfehlung bei rund einem Euro, zwei Kapseln sollen pro Tag genommen werden. Das spricht vermutlich vor allem dafür, dass es bisher nicht viele Mittel gibt, die bei Reizdarm gut helfen, sodass die Betroffenen nach jedem Strohhalm greifen.

Alte Bekannte

So weit, so schlecht. Eine Geschichte müssen wir aber doch noch erzählen, die vieles erklärt: Bei der Recherche, was der Anbieter eigentlich sonst noch macht, sind wir auf ein eng verflochtenes Firmen-Netzwerk gestoßen. Bei der Produkt-Liste eines der Unternehmen dachten wir kurz, wir hätten uns ins GPSP-Archiv verirrt. Finden sich dort doch Präparate wie RubaXX,13 Taumea,14 Restaxil 15 und Co., über die wir bereits berichtet haben: Alles Produkte, die mit viel Werbung auf sich aufmerksam machen, allerdings wenig Belege für einen Nutzen mitbringen. Und da schließt sich der Kreis dann wieder.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2020 / S.08