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© Ridofranz/iStockphoto.com

Die Spritze gegen Migräne

Was bringen die neuen Antikörper?

Innerhalb von sieben Monaten sind drei neue Wirkstoffe zur Vorbeugung von Migräne auf den Markt gekommen. Was wir darüber wissen – und was nicht.

Eine Migräne ist mehr als ein bisschen Kopfweh. Betroffene sind durch die starken Schmerzen oft außer Gefecht gesetzt, besonders wenn sie häufig auftreten. Helligkeit und Lärm werden dann manchmal unerträglich. Umso wichtiger ist es, Migräne-Attacken nicht nur zu behandeln, sondern ihnen möglichst vorzubeugen.

Wer unter Migräne leidet, kennt oft die typischen Auslöser, die von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein können. Die lassen sich allerdings nicht immer erfolgreich vermeiden, und besonders bei sehr häufigen oder starken Attacken kann es deshalb sinnvoll sein, mit Arzt oder Ärztin über eine vorbeugende Behandlung zu beraten. Dafür gab es bisher einige Optionen mit oder ohne Medikamente.

Neue Mittel verfügbar

Die bisherigen Möglichkeiten zur Vorbeugung sind nicht zufriedenstellend: Die Maßnahmen schlagen nicht bei allen Betroffenen an, und die verwendeten Arzneimittel haben zum Teil beträchtliche unerwünschte Wirkungen. Seit Ende 2018 sind drei Wirkstoffe aus einer neuen Medikamentenklasse zur Migräneprophylaxe auf den Markt gekommen. Die Antikörper Erenumab, Galcanezumab und Fremanezumab hemmen die Wirkung von einem bestimmten Eiweiß,1 das als Botenstoff mit der Entstehung von Migräneattacken in Verbindung gebracht wird. Weil die Wirkstoffe selbst auch Eiweiße sind, müssen sie gespritzt werden. Als Tablette würden sie im Magen zersetzt.

Begrenztes Wissen

Wichtig zu wissen: Die neuen Mittel sind nur für Erwachsene mit episodischer oder chronischer Migräne zugelassen, bei denen an mindestens vier Tagen pro Monat Attacken auftreten.

Manchmal wird eine Migräne mit der Zeit von selbst besser, oft sind die Betroffenen aber Jahre oder Jahrzehnte mit den Beschwerden konfrontiert. Die meisten Untersuchungen dauerten nur drei Monate, lediglich eine Studie mit Erenumab lief über sechs Monate. Deshalb lassen sich aus den bisherigen Daten keine verlässlichen Schlussfolgerungen für Nutzen und Schaden bei längerer Anwendung ziehen.

Für alle Wirkstoffe ist es unklar, wie es um Wirksamkeit und Sicherheit bei Menschen steht, die älter als 65 beziehungsweise 75 Jahre sind, denn diese Gruppe war in den Studien nicht oder nur zu einem geringen Anteil vertreten.

Was bringt es?

Alle drei Wirkstoffe wurden je­weils an mehr als 2.000 Menschen mit episodischer oder chronischer Migräne untersucht. Dabei gibt es die meisten Erfah­run­gen bei episodischer Migräne.3

Viele Menschen, die an den Zulassungsstudien teilnahmen, hatten vorher noch keine vorbeu­genden Medikamente gegen Migrä­ne-
­anfälle ausprobiert. Patient­innen und Patienten, bei denen bereits mehrere dieser Mittel nicht angeschlagen hatten, durften an den Studien nicht teil­nehmen. Verglichen wurde die Wirksamkeit jeweils nur mit einem Scheinmedikament (Placebo). Dabei zeigte sich, dass die Antikörpertherapie im Vergleich zu Placebo den Betroffenen monatlich etwa 1,5 bis 2 Migräne-Tage ersparte (Tabelle 1).

GPSP Tabelle 1: Abnahme der monatlichen Migränetage
Erenumab Galcanezumab Fremenezumab
Migräneart episodisch chronisch episodisch chronisch episodisch chronisch
Monatliche Migränetage zu Beginn 8,3 18 9 19 9 16
Sinkt mit Placebo um (Tage) 1,8 4,2 2,2-2,8 3 2,2 3,2
Sinkt mit Antikörper um (Tage) 3,2-3,7 6,6 4-5 4,2-4,7 3,4-3,7 5
Differenz zu Placebo (Tage) 1,4-1,9 2,5 2 1,8-2 1,3-1,5 1,7-1,8
Ergebnisse der Zulassungsstudien, im Vergleich zu Placebo

Später wurden zwei der Antikörper – Erenumab und Fremene­zumab – noch in zwei weiteren Studien untersucht, dieses Mal an Menschen, die bereits vergeblich zwei bis vier vorbeugende Mittel getestet hatten.4 Bei ihnen sank mit der Antikörperbehandlung die Anzahl der monatlichen Migränetage um 1,5 bis 3,5 Tage im Vergleich zu Placebo (Tabelle 2). Das heißt also: Die neuen Antikörper ersparen Betroffenen einige wenige Migränetage im Monat, man kann also nicht mit Beschwerdefreiheit rechnen.

GPSP Tabelle 2: Abnahme der monatlichen Migränetage, wenn andere Mittel versagt haben*
Erenumab Fremenezumab
Migräneart episodisch episodisch oder chronisch
Monatliche Migränetage zu Beginn 9 14
Sinkt mit Placebo um (Tage) 0,2 0,6
Sinkt mit Antikörper um (Tage) 1,8 3,7–4,1
Differenz zu Placebo (Tage) 1,6 3–3,5
* Personen, bei denen mehrere (zwei bis vier) „ältere“ vorbeugende Mittel nicht angeschlagen haben

Anwendung und Dosierung

Die Antikörper werden in der Regel einmal im Monat gespritzt. Fremanezumab kann aber auch in einer höheren Dosis alle drei Monate injiziert werden. Das verändert nach bisherigem Kenntnisstand Wirksamkeit oder Verträglichkeit nicht.5

Für Erenumab stehen zwei verschiedene Dosierungen zur Verfügung. Allerdings ist es nicht sicher geklärt, ob die höhere Dosierung tatsächlich einen Vorteil bringt.

Stellenwert im Vergleich

Wie gut die neuen Mittel im Vergleich zu den bisherigen Behandlungsoptionen wirken, ist unklar. Denn in den bisherigen Studien wurden sie nur mit einem Scheinmedikament, also Placebo verglichen.6

Wie alle neuen Arzneimittel wurden auch die Antikörper gegen Migräne auf ihren Zusatznutzen bewertet. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) sah nur Vorteile, wenn kein anderes vorbeugendes Mittel ausreichend geholfen hat oder anwendbar ist. Angesichts einiger offener Fragen gibt es aber bei dieser Einschätzung Unsicherheit.7

Wirkt einer der Antikörper besser als die anderen? Das wissen wir nicht, denn bislang wurden die drei neuen Wirkstoffe nicht im direkten Vergleich untersucht. Die meisten Erfahrungen liegen inzwischen mit Erenumab vor, das am längsten auf dem Markt ist. Andererseits ist Fremanezumab für Menschen mit chronischer Migräne, denen andere Therapieoptionen nicht ausreichend helfen, besser untersucht als Erenumab.

Unerwünschte Wirkungen

Zu den häufigsten Störwirkungen gehören bei allen drei Antikörpern Reaktionen an der Injektionsstelle wie vorübergehende Schmerzen, Hautausschlag, Juckreiz und Schwellungen. Da die Dauer der bisherigen Studien auf wenige Monate begrenzt ist, lassen sich zu langfristigen Auswirkungen keine sicheren Aussagen treffen.

Der Botenstoff, gegen den sich Antikörper richten, spielt auch eine Rolle bei der Weitstellung von Blutgefäßen im Körper. Wenn diese Weitstellung durch die Antikörper gehemmt wird, könnten Organe wie das Herz weniger durchblutet werden. Ob das für Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, etwa mit einem hohen Risiko für einen Herzinfarkt, gefährlich werden kann, ist bisher unklar. Denn solche Menschen waren an den bisherigen Studien nicht beteiligt.

Viele offene Fragen

Die Datenlage zu den drei neuen Migränemitteln ist insgesamt unbefriedigend. Vergleiche mit etablierten Therapieoptionen feh­len. Die Risiken sind wie bei den meisten neuen Medikamenten nicht ausreichend geklärt. Angesichts dessen sind jährliche Kosten von 7.562 € bis 16.580 € schwer zu rechtfertigen. Erwägen kann man die Mittel zur Vorbeugung von Migräneanfällen, wenn alle etablierten Wirkstoffe nicht ausreichend helfen, nicht vertragen werden oder nicht eingesetzt werden können.

Migräne
GPSP 4/2018, S. 8

G-BA
GPSP 6/2011, S. 10

  1. Calcitonin Gene-Related Peptide, CGRP
  2.  IQWiG (2018) Migräne. www.gesundheitsinformation.de/migraene.2228.de.html (Abruf 5.11.2019)
  3. Die Informationen und Zahlen in diesem Artikel beruhen – wenn nicht anders aufgeführt – auf den Auswertungen der arznei-telegramm-Datenbank. Stand: 28.9.2019
  4. Für Galcanezumab gibt es keine eigene Studie zu Migräne, wenn andere Medikamente nicht ausreichend helfen. Für die frühe Nutzenbewertung des G-BA wurden kleine Teilgruppen aus den Zulassungsstudien herangezogen.
  5. Europäischer Beurteilungsbericht zu Fremanezumab www.ema.europa.eu/en/medicines/human/EPAR/ajovy (Abruf 11.11.2019)
  6. arznei-telegramm (2019) 50, S. 50
  7. Frühe Nutzenbewertung des G-BA zu Erenumab (Mai 2019), Galcanezumab (September 2019) und Fremanezumab (November 2019) www.g-ba.de/bewertungsverfahren/nutzenbewertung

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 01/2020 / S.06