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Depression: Immer noch nicht alle Studien veröffentlicht

Nutzen von Antidepressiva überschätzt, weil Publikationen fehlen

Seit über zehn Jahren ist es bekannt: Anbieter lassen bei Medikamenten gegen Depressionen unvorteilhafte Studienergebnisse gern unter den Tisch fallen. Dadurch entsteht ein zu positives Bild der Wirksamkeit. Hat sich die Lage inzwischen gebessert?

© Thomas Kuntz

Vernünftige Entscheidungen über die beste individuelle Therapie sind ohne volle Kenntnis der Fakten kaum möglich. Der Psychiater Erick
Turner und Kolleg:innen hatten deshalb 2008 die Informationen zu zwölf Antidepressiva in den USA unter die Lupe genommen. Sie verglichen die Bewertung des Nutzens durch die Zulassungsbehörde FDA mit den Aussagen über diese Studien in Fachzeitschriften, aus denen praktisch tätige Mediziner:innen ihr Wissen über neue Medikamente beziehen.

Während die FDA nur rund die Hälfte der 74 eingereichten klinischen Studien als Wirksamkeitsbelege wertete, entstand in der Fachpresse der Eindruck, dass 94 Prozent der Studien positiv ausgegangen seien.1

Wie konnte eine so große Differenz in der Wahrnehmung entstehen? Bei der Hälfte der Studien hatte das Medikament nicht besser als ein Placebo abgeschnitten, aber nur bei elf Prozent wurde über dieses Ergebnis korrekt berichtet. Die meisten Studien kamen gar nicht ans Licht der Öffentlichkeit, bei anderen wurden die Ergebnisse einfach uminterpretiert.

Antidepressiva: Wissen wir jetzt mehr?

Jetzt kommt vom selben Autor:innenteam ein Update.2 Es hat sich dafür die Dokumentationen von vier neueren Antidepressiva angeschaut, für die der FDA 30 Studien vorlagen. Wesentliche Ergebnisse blieben gleich: Wieder schnitten in Kenntnis aller Daten bei der Hälfte der Studien die Wirkstoffe nicht besser als ein Placebo ab. Und Berichte über alle positiven Studien fanden sich in der Fachpresse.3 Immerhin wurden jetzt 47 Prozent der negativen Studien korrekt veröffentlicht, gegenüber nur elf Prozent 2008.

Dabei gab es aber deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Wirkstoffen: In der neuen Analyse wurden für zwei der vier Präparate sämtliche Studien veröffentlicht, egal ob positiv oder negativ.

Bei den beiden anderen Medikamenten hingegen fehlten für acht von 15 negativen Studien korrekte Veröffentlichungen: Für sechs gab es gar keinen Artikel, und die Ergebnisse zu zwei Studien wurden in einer zusammenfassenden Veröffentlichung falsch dargestellt. Sie waren dort nur gemeinsam ausgewertet worden, um ein besseres Ergebnis vorzutäuschen. Da auch mit diesem Trick die Wirksamkeit immer noch nicht eindeutig belegt werden konnte, wurde auch noch die Analysemethode gezielt nachträglich geändert, um Vorteile vorzutäuschen.

Während 2008 noch elf Studien mit negativem Ausgang in den Veröffentlichungen zu positiven Ergebnissen umgeschrieben wurden, sind verzerrende Darstellungen laut Update mit nur noch zwei falsch berichteten Studien seltener geworden.

Was sich geändert hat

Diese Verbesserungen geschahen aber nicht freiwillig, sondern sind vermutlich das Ergebnis von regulatorischen Eingriffen, die für mehr Transparenz sorgen sollen. Den Anfang machte die Schaffung eines öffentlichen Registers für klinische Studien in den USA, die im Jahr 2000 unter dem Namen ClinicalTrials.gov online ging. Sie machte es schwerer, die Existenz von Studien zu verschweigen. 2004 verkündeten die Herausgeber:innen der größten medizinischen Fachzeitschriften, keine Artikel über Studien mehr anzunehmen, wenn diese nicht registriert sind. 2007 wurde durch ein Gesetz in den USA die Eintragung von Studien in das Register verpflichtend. Auch der öffentliche Druck, der durch mehrere Publikationen zum Thema „Unterschlagen von unvorteilhaften Ergebnissen“ entstanden ist, hat sicher geholfen.

Turner & Co. warnten angesichts der Fortschritte aber vor Euphorie. Das Glas sei mit Verschweigen der Hälfte der negativen Studien immer noch halbleer, in der Gesundheitsversorgung sei nur die ganze Wahrheit akzeptabel. Wenn der Nutzen von Antidepressiva überschätzt wird, unterbleiben womöglich andere wirksame, medikamentenfreie Behandlungen wie zum Beispiel Psychotherapien.

 

Der Eindruck täuscht

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 04/2022 / S.12