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© LauriPatterson_iStock

Krebs-Risiko: Ist Fleisch essen so gefährlich wie Rauchen?

Wie missverständliche Angaben unnötige Ängste schüren

Ein großes Sandwich mit Schinkenspeck pro Tag lässt das Darmkrebsrisiko um 20 Prozent steigen. Diese Meldung sorgte für viel Aufregung. Was tatsächlich dahinter steckte.

Am 1. November 2007 sorgte eine Schlagzeile für Furore. Die britische Boulevard-Zeitung „The Sun“ titelte: „Careless pork costs lives“, also: Der unbedachte Konsum von Schweinefleisch kostet Leben.

Was war passiert? Der World Cancer Research Fund, ein gemeinnütziger Forschungsverbund zur Krebsvorbeugung, hatte einen Tag zuvor eine 500 Seiten starke systematische Übersichtsarbeit veröffentlicht. Darin hatten die Fachleute ausgewertet, welchen Einfluss verschiedene Faktoren auf das Krebsrisiko haben. Eine Frage dabei: Erhöhen rotes Fleisch, zum Beispiel von Schwein oder Rind, und verarbeitete Fleischprodukte wie Wurst oder Schinken das Darmkrebsrisiko? Das Ergebnis: Wer täglich 50 Gramm verarbeitetes Fleisch isst, also zum Beispiel ein großes Sandwich mit Frühstücksspeck, erhöht sein Risiko für Darmkrebs um 20 Prozent.1

Ähnliches wiederholte sich im Oktober 2015, als die Krebsforschungsbehörde IARC der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Pressemitteilung veröffentlichte, in der es ebenfalls um das Krebsrisiko durch verarbeitetes Fleisch ging. Die wesentliche Botschaft: Verarbeitetes Fleisch ist ab sofort in der Liste der krebserregenden Substanzen in die Kategorie I eingestuft – in die selbe Kategorie, in der auch Zigaretten und Asbest gelistet sind.2

Die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“ fragte daraufhin besorgt: „Rauchen kann töten, Wurst essen auch?“ Andere Zeitungen titelten: „Speck und Schinken haben das gleiche Krebs-Risiko wie Zigaretten”.3

Doch stimmt das wirklich? Und was bedeutet eigentlich ein 20 Prozent höheres Risiko für Krebs?

Was bei Risikoangaben häufig fehlt

Der seltsame Fall der tödlichen Wurst ist ein Verwirrspiel mit relativen und absoluten Risikoangaben. Die Aussage „Das Risiko ist um 20 Prozent erhöht“ enthält eine relative Risikoangabe. Die bezieht sich immer auf einen Ausgangswert. In den Meldungen über das Krebsrisiko von Schinken und Würstchen fehlte dieser Wert aber. Wenn man dieses Basisrisiko jedoch nicht kennt, kann man die Prozentangabe nicht verstehen. Obwohl sich 20 Prozent nach viel anhört, kann es sich am Ende als eine vergleichsweise geringe Steigerung herausstellen.

Kleines Beispiel, um dieses Phänomen besser zu verstehen: Wenn man seinen Freund:innen strahlend erzählt, dass man seine Joggingstrecke um 100 Prozent steigern konnte, hört sich das großartig an. 100 Prozent mehr bedeutet schließlich eine Verdopplung. Vielleicht ist das Lob dafür jedoch gar nicht so berechtigt: Etwa wenn man zuvor nur 50 Meter ohne Pause laufen konnte. Bei einem Ausgangswert von fünf Kilometern liegt der Fall aber schon ganz anders.

Besser absolute Angaben verwenden

Zurück zum Krebsrisiko des täglichen Schinkensandwiches. Um beurteilen zu können, wie schädlich es wirklich ist, muss man das Basisrisiko für Darmkrebs kennen. Es liegt auf die gesamte Lebenszeit bezogen bei etwa sechs Prozent (bei Männern etwas höher als bei Frauen). Mit anderen Worten: Rund sechs von 100 Menschen werden im Laufe ihres Lebens an Darmkrebs erkranken.

Wie viel mehr Menschen bekommen Darmkrebs, wenn sie ihr Leben lang jeden Tag 50 Gramm verarbeitetes Fleisch essen und dadurch das Krebsrisiko relativ um 20 Prozent steigt? 20 Prozent bedeutet bezogen auf den Ausgangswert: ungefähr ein Mensch von 100. Es werden dann also nicht mehr sechs von 100 Menschen an Darmkrebs erkranken, sondern sieben von 100.3 Da erscheint das Schinkensandwich doch gar nicht mehr so gefährlich.

Wie sicher ist der Effekt?

Doch warum hat die WHO Fleisch in die selbe Kategorie der krebserregenden Substanzen eingeordnet wie Tabak und Asbest? Denn diese Substanzen erhöhen das Krebsrisiko deutlich stärker als rotes Fleisch. Gut zu wissen: Bei der Einstufung der WHO geht es lediglich um die Frage, wie sicher sich die Wissenschaftler:innen sind, dass ein krebserregender Effekt besteht. Im Falle von verarbeitetem Fleisch ist sich die WHO aufgrund der Datenlage genauso sicher, dass es zur Krebsentstehung beiträgt, wie bei Tabak und Asbest4 – auch wenn Würstchen und Frühstücksspeck vermutlich für deutlich weniger Krebsfälle verantwortlich sind als Rauchen.

Relative Risikoangaben sind verwirrend

Das Problem mit den relativen Angaben gibt es ziemlich häufig: nicht nur in der Werbung für Matratzen und Einbauküchen, sondern auch in der Medizin. Relative Risikoangaben lassen die Effekte einer Maßnahme viel spektakulärer erscheinen als absolute Zahlen. Die Folge: Wir überschätzen schnell, wie nützlich eine medizinische Behandlung wirklich ist oder wie gefährlich ein bestimmtes Verhalten sein kann. Das geht übrigens nicht nur Patient:innen, sondern auch medizinischen Fachleuten so. Das gilt etwa für den Nutzen von Behandlungen oder von Krebsfrüherkennung.5

Fehlen in Gesundheitsinformationen das Basisrisiko und absolute Angaben, lässt sich nicht beurteilen, ob eine Behandlung mit einem großen relativen Effekt tatsächlich für eine Person einen nennenswerten Nutzen hat. Bei GPSP achten wir deshalb darauf, wo immer möglich Nutzen und Risiken von medizinischen Maßnahmen in absoluten Zahlen zu beschreiben.

  1. Riesch H u.a. (2011) Health Risk Soc; 13, S. 47
  2. WHO-IARC Press Release No. 240 (2015) IARC Monographs evaluate consumption of red meat and processed meat. (Abruf 14.09.2022)
  3. Spiegelhalter D (2019) The Art of Statistics: Learning from data. London: Penguin.
  4. WHO (2015) – Q&A on the carcinogenicity of the consumption of red meat and processed meat. (Abruf 14.9.2022)
  5. Wegwarth O u.a. (2011) Patient Education Counsel; 84, S. 251

 

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2022 / S.24