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© Bundesarchiv/ Löwe

Groschen gegen Kinderlähmung

Die Geschichte der Polioimpfung

Lange Zeit gab es keine effektiven Mittel, um die Kinderlähmung zu verhindern. Das änderte sich erst, als der US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt eine große Spenden­kampagne unterstützte und so die Entwicklung eines Impfstoffs ermöglichte.

Die Kinderlähmung (Poliomyelitis, kurz: Polio) verbreitete in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Angst und Schrecken. Vor allem in warmen Sommern breitete sich das Poliovirus über Schmier- und Tröpfcheninfektion schnell aus, so zum Beispiel 1916, als in New York 27.000 Menschen daran erkrankten und 6.000 starben.1

Zwar verläuft die Erkrankung bei 98 Prozent der Infizierten mild oder ganz symptomlos. Aber wenn die Erreger vom Verdauungstrakt in die Blutbahn gelangen, greifen sie Nervenzellen an. Bei etwa zwei Prozent der Erkrankten kommt es zu Lähmungen, die das selbstständige Gehen stark einschränken.2

Da meist Kinder Lähmungserscheinungen an Beinen und Füßen entwickeln, heißt die Polio­infektion im Volksmund auch Kinderlähmung. In schweren Fällen kann auch die Atemmusku­latur stark geschwächt werden. Kinder starben früher oft daran, denn die Atmung unterstützende Apparaturen wie die „Eiserne Lunge“ stand nur wenigen zur Verfügung.

Erste Versuche

Karl Landsteiner, der Entdecker der Blutgruppen, wies 1908 den Polioerreger nach und bereitete damit den Boden für die Forschung an einem Polioimpfstoff, der vor Kinderlähmung schützen sollte.

1935 wagte in den USA der junge Forscher Maurice Brodie eine Versuchsreihe mit einem frühen Impfstoff, doch der hatte schwere Nebenwirkungen: Von den 10.000 Kindern, die im Rahmen der Untersuchung geimpft wurden, erkrankten mehrere an Polio, trugen Lähmungen davon oder starben.1

Zum Glück ging die Forschung weiter und auch der US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt spielte eine wichtige Rolle.

Der Marsch der Groschen

Roosevelt selbst war im Alter von 39 Jahren an Polio erkrankt. Die Folge: Er konnte nicht mehr selbstständig gehen, war auf Rollstuhl, Beinschienen, Gehstock und Assistenz angewiesen. Er spürte also am eigenen Leib, was es heißt, mit einer Gehbehinderung zu leben.

Zwölf Jahre später, 1933, wurde er Präsident der USA. Roosevelt hatte Sorge, stigmatisiert zu werden: Er achtete darauf, dass es von ihm so gut wie keine Aufnahmen gab, die ihn im Rollstuhl oder beim Gehen mit Beinschienen zeigten.

Im Jahre 1938 wurde auf Roosevelts Initiative die „National Foundation for Infantile Paralysis“ (dt. Nationale Stiftung gegen Kinderlähmung) gegründet und eine bis dahin beispiellose Spendenaktion gestartet, um ein Mittel gegen Polio zu finden: den „Marsch der Groschen“ (March of Dimes).

Berühmte Persönlichkeiten forderten im Radio und in Zeitschriften dazu auf, der Kampagne ihre „Groschen“ zu spenden. Innerhalb weniger Wochen schickten die Amerikaner über zweieinhalb Millionen Dimes per Post ins Weiße Haus, und innerhalb von wenigen Jahren kamen Millionen Dollar an Spendengeldern zusammen. Aber Roosevelt starb 1945 und erlebte den Durchbruch in der Impfstoffforschung nicht mehr.1

„Polio-Pioniere“

Jonas Salk, ein US-amerikanischer Arzt und Immunologe, begann 1952, Versuchsreihen mit inaktivierten, also abgetöte­ten Polioerregern an Affen durch­zuführen. Die Ergebnisse waren so vielversprechend, dass 1954 eine randomisierte Doppelblind-Studie mit 1,3 Millionen amerikanischen Kindern gestartet werden konnte. Dabei wurden die Kinder nach dem Zufallsprinzip in drei Gruppen aufgeteilt: Die erste Gruppe erhielt den neu entwickelten Impfstoff, die zweite eine Scheinimpfung ohne Wirkstoff, und die dritte Gruppe erhielt keine Behandlung und wurde lediglich beobachtet. Außerdem wussten weder die Studienteilnehmer, noch die Ärzte, noch die Auswerter, wer zu welcher Gruppe gehörte – das steckt hinter dem Begriff „doppelblind“. Das Verfahren stellt sicher, dass der Test des Impfstoffs tatsächlich aussagekräftige Ergebnisse liefert.

Die Studie war ein Erfolg, denn sie wies nach, dass der Impfstoff gegen Polio schützte und sicher war. Die über eine Million Kinder, die bei der Studie mitmachten, wurden daraufhin die „Polio-Pioniere“ genannt.1 Der Polioimpfstoff nach Salk, kurz IPV, wird heute noch verwendet und bereits bei Babys ab einem Alter von zwei Monaten eingesetzt. Er wird in den Muskel gespritzt.

Die Schluckimpfung

Parallel wurde aber noch ein weiterer Impfstoff entwickelt: 1956 erschien ein Bericht von Albert Sabin, einem Forscher, der bereits seit den 1930er Jahren Polio erforschte. Er gab bekannt, dass er einen Lebendimpfstoff mit abgeschwächten Polioviren an 133 Personen getestet hatte, der geschluckt werden konnte (kurz OPV genannt).

1959 begann dann in der Sowjet­union eine Versuchsreihe mit dem Sabin-Impfstoff an zehn Millionen Kindern. Dabei stellte
sich heraus, dass Sabins Schluck­impfung eine schnellere Immun­antwort provozierte als der Impfstoff nach Salk und damit bei einer Epidemie Vorteile bot. Leider erkrankten durch den Lebendimpfstoff aber auch vereinzelt geimpfte Kinder oder ihre ungeimpften Angehörigen, weil die Geimpften die Viren ausscheiden. Die Schluckimpfung, preisgünstig und leicht zu verabreichen, trat einen wahren Siegeszug um die Welt an und verhinderte in vielen Ländern effektiv die Weitergabe von Polio­viren. Das Motto klingt vielen noch in den Ohren: „Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam.“ Denn der Impfstoff wurde auf ein Stückchen Zucker geträufelt.

Anfang der 1960er Jahre starteten in Deutschland flächendeckende Impfprogramme und immer weniger Menschen erkrankten an Polio. Im Jahre 2002 wurde die Europäische Region als frei von Kinderlähmung erklärt.3

Inzwischen wird die Schluckimpfung bei uns nicht mehr empfohlen, weil mittlerweile sehr viele Menschen geimpft sind und damit das Risiko für eine natürliche Ansteckung sehr niedrig ist. Deshalb wiegen die möglichen Nebenwirkungen schwerer. In anderen Teilen der Welt kommt eine modifizierte Form der Schluckimpfung jedoch immer noch zum Einsatz.4

Polio heute

Polioinfektionen treten heute nur noch in wenigen Ländern auf, etwa in Pakistan, Nigeria oder Afghanistan. Doch solange Polio nicht vollständig ausgerottet ist, empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation auch bei uns weiterhin alle Kinder zu impfen – allerdings mit dem IPV-Impfstoff. Denn das Virus kann immer noch eingeschleppt werden, und es könnte sich dann auch hierzulande wieder ausbreiten. Außerdem werden Impfungen Erwachsenen angeraten, die in Gebiete mit erhöhtem Infektionsrisiko reisen oder bei denen die letzte Auffrischung mehr als zehn Jahre zurückliegt.5

Entdeckung der Blutgruppen
GPSP 6/2018, S. 25

Randomisierung: siehe S. 24 in diesem Heft

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 02/2019 / S.10