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© Jörg Schaaber

Blutdrucksenker besser am Abend nehmen?

Weitere Zweifel an umstrittener Studie

Ist es tatsächlich von Vorteil, Blutdrucksenker abends statt morgens einzunehmen? Das hatte im letzten Jahr eine große Studie nahegelegt, die jedoch Fachleute sehr kritisch gesehen haben. Jetzt gibt es neue Entwicklungen, die eine solche Empfehlung noch mehr infrage stellen.1

Ende 2019 hatten die Ergebnisse einer großen spanischen Studie für Aufsehen gesorgt: Danach soll die abendliche Einnahme von Blutdrucksenkern deutlich besser vor Herzinfarkten und Schlaganfällen schützen, als wenn die Mittel – wie üblich – morgens oder über den Tag verteilt eingenommen werden. Über diese Ergebnisse hatten auch zahlreiche Medien berichtet.

Viele Fragen ungeklärt

Doch bereits bei der Veröffentlichung hatte eine unserer Mutterzeitschriften, das arznei-telegramm®, auf zahlreiche Schwächen und Ungereimtheiten der Studie hingewiesen: So fehlen wichtige Details zur Studiendurchführung. Zudem fällt der Nutzen deutlich größer aus als bei anderen Studien mit Blutdrucksenkern – besonders wenn man den Schutzeffekt vor Herzinfarkten und anderen Herz-Kreislauf-Ereignissen in Relation zur erreichten Blutdrucksenkung bei Studienteilnehmenden setzt.2

Das Fazit des arznei-telegramm®: Ob die abendliche Einnahme tatsächlich vorteilhafter ist als die morgendliche, ist nicht zweifelsfrei belegt. Auch eine weitere unserer Mutterzeitschriften, DER ARZNEIMITTELBRIEF, riet zur Zurückhaltung.3

Zu schön, um wahr zu sein

Aus diesem Grund hatten wir bisher auch nicht über diese Empfehlung berichtet. Allerdings gibt es jetzt interessante neue Entwicklungen: So hatten auch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erhebliche Zweifel an der Studie und ihren Ergebnissen. Sie wiesen etwa darauf hin, dass es der Forschungsgruppe verblüffend gut gelungen sei, die knapp 20.000 Patientinnen und Patienten über viele Jahre bei der Stange zu halten – viel besser, als es von anderen Studien bekannt ist. Im Subtext: eigentlich zu gut, um wahr zu sein.

Offizielle Warnung

Veröffentlicht wurden diese Bedenken als Leserbriefe in der medizinischen Fachzeitschrift „European Heart Journal“, in der auch die ursprüngliche Studie publiziert wurde. Die Herausgeber der Zeitschrift entschlossen sich jetzt, ihre Leserinnen und Leser offiziell zu warnen: Die Ergebnisse der Studie werden derzeit weiter überprüft, und bis dahin sollten sie nicht für bare Münze genommen werden.4

Unseres Erachtens wirft dieser Vorgang ein schlechtes Licht auf den Begutachtungsprozess der Fachzeitschrift: Denn kritischen Gutachterinnen und Gutachtern hätten alle in den Leserbriefen genannten Aspekte bereits vor der Veröffentlichung auffallen müssen.

Doch relativ klein

Und noch ein weiteres aufschlussreiches Detail wurde publik: In der ursprünglichen Veröffentlichung wurde der Nutzen nur in relativen Werten angegeben. Und der las sich recht beeindruckend: Sank doch das Risiko mit der abendlichen Einnahme um fast 50 Prozent gegenüber der morgendlichen Einnahme. Wie viele Personen aber in absoluten Zahlen profitieren, war nicht bekannt, denn diese Angabe fehlte in der Veröffentlichung – obwohl sie nach internationalen Standards dringend nötig gewesen wäre.

Diese Zahlen hat die Forschungsgruppe aber inzwischen in einem etwas versteckten Kommentar zu ihrer Publikation nachgeliefert. Und siehe da: Der Nutzen sieht auf einmal deutlich kleiner aus. Bezogen auf 100 Menschen profitieren über einen Zeitraum von sechs Jahren rund 7 vom Wechsel von der morgendlichen auf die abendliche Einnahme. Aber auch das wäre noch deutlich mehr als in anderen Studien mit Blutdrucksenkern.

Fazit

Die neuen Erkenntnisse lassen die Zweifel an der Verlässlichkeit der Studie weiter wachsen. Zu welchem Ergebnis die Überprüfung der Studie durch die Fachzeitschrift führen wird, ist nicht abzuschätzen. Derzeit laufen noch weitere Studien anderer Forschungsgruppen. Es bleibt abzuwarten, ob sie die Ergebnisse der spanischen Studie bestätigen können.

Nach dem derzeitigen Kenntnisstand scheint es nicht sinnvoll, den Einnahmezeitpunkt von Blutdrucksenkern pauschal auf abends zu verschieben, wenn Arzt oder Ärztin keinen guten Grund für diesen Einnahmerhythmus haben. Wir bleiben dran!

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 05/2020 / S.16