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Aderlass nach Abbinden des Oberarms. Egbert van Heemskerk (1634-1704): Der Wundarzt Jacob Franszen mit Familie in seinem Laden.

„Aber zum Teufel, es gibt keine Löcher im Herzen!“

Wie der Blutkreislauf entdeckt wurde

Die Erkenntnis, dass das Blut im Körper zirkuliert, ist erst rund 350 Jahre alt. Vorher glaubte man, dass die Leber ständig neues Blut produziert, das dann im Gewebe versickert. Bei der Entdeckung des Blutkreislaufs im frühen 17. Jahrhundert spielte der englische Arzt und Wissenschaftler William Harvey eine wichtige Rolle.

Wird Blut abgenommen oder ein Medikament in eine Vene gespritzt, beginnt das immer gleich: Am Oberarm wird mit einem Schlauch das Blut gestaut, sodass die Armvenen hervortreten. Für uns ist das nichts Besonderes. Für den Arzt William Harvey war es jedoch eine entscheidende Beobachtung. Und er zog sie als einen Beleg für seine Theorie heran, dass das Blut im Kreis durch den Körper fließt.

Damit bewies er einigen Mut. Denn er stellte damit die gesamte medizinische Lehre über Blutbildung, Blutfluss und Herzfunktion infrage, die auf Claudius Galen von Pergamon, einen Gelehrten aus dem 1. Jahrhundert nach Christus, zurückging. Und das bedeutete, dass Harvey sich mit wichtigen Vertretern der ärztlichen Zunft anlegte.1

Angriff auf die gängige Lehrmeinung

Die Theorie von Galen: Die Leber produziert das Blut, das auf seinem weiteren Weg durch den Körper durch die poröse Scheidewand zwischen rechter und linker Herzkammer fließt, also von einer Seite zur anderen Herzseite. Schließlich versickert es im Gewebe.

Vor Harvey hatten schon andere Forscher an der alten Theorie gezweifelt. Manche von ihnen wurden lediglich ignoriert, wie der arabische Gelehrte Ibn al-Nafis. Andere dagegen, wie 100 Jahre zuvor der an der italienischen Medizinfakultät von Padua lehrende Professor Andreas Vesalius, erregten großes Aufsehen, zahlten für ihren Widerspruch zur gängigen Lehrmeinung aber einen hohen Preis: Sie verloren ihre Reputation und wurden unehrenhaft entlassen.1

Harvey ging also mit der Veröffentlichung seiner Arbeit „Über die Bewegung des Herzens und des Blutes bei Lebewesen“ im Jahr 1628 kein geringes Risiko ein. Als Mitglied des einflussreichen Londoner Royal College of Physicians, als Leibarzt am englischen Königshaus und als Mediziner mit eigener Praxis hatte er einiges zu verlieren.

Mut zur Wahrheit

Doch er fühlte sich der wissenschaftlichen Erkenntnis zu sehr verpflichtet, als dass er hätte schweigen können. So notierte er im Vorwort seiner Arbeit: „Ich folge geflissentlich nur der Wahrheit und habe sowohl alle Mühe als auch allen Fleiß angewendet, um irgend etwas zuwege bringen zu können, das guten Menschen willkommen, den Gelehrten angemessen und dem Schrifttum nützlich wäre.“

Wie sehr er für die Wahrheit brannte, zeigt auch ein anderes Zitat aus seinem Werk, das sich wie das Aufstampfen eines erzürnten Aktivisten anhört: „Aber zum Teufel, es gibt keine Löcher in der Herzscheidewand!“

Auf den Schultern von anderen

Harvey griff für seine Schlussfolgerungen auch auf Puzzleteile aus der Arbeit anderer Forscher zurück. Vor ihm hatte der Anatom Fabricius da Aquapendente in Venen Klappen entdeckt. Und eine Reihe von Gelehrten, unter ihnen Aristoteles und Andreas Vesalius, hatten Anatomie und Funktion der Herzklappen beschrieben. Vesalius hatte in der Herzscheidewand keine kleinen Löcher gefunden, wie dies Galen angenommen hatte. Damit fehlte eine schlüssige Erklärung dafür, wie das Blut von der rechten zur linken Herzkammer gelangt. Harvey konnte außerdem auf Erkenntnisse des Italieners Realdo Colombo zum Lungenkreislauf aufbauen.

Theorie und Beobachtungen

Aber William Harvey erforschte auch vieles selbst: Er untersuchte an lebenden Tieren, wie das Herz arbeitet. Dazu schnitt er ihnen den Brustkorb auf und stellte fest, dass Galens Theorie nicht stimmen konnte, nach der die Organe Blut ansaugen. Vielmehr zieht sich das Herz zusammen und pumpt dabei aktiv Blut in den Körper.

Nach diesen und weiteren Be­obachtungen und dem, was seine Vorgänger herausgefunden hatten, war Harvey sich sicher, dass das Blut in einem Kreislauf durch den Körper fließen muss. Seine Theorie passte auch zu der eingangs erwähnten Beobachtung: Beim Abbinden des Oberarms staut sich das Blut unterhalb der Abschnürung deshalb, weil es am Weiterfließen zum Herzen gehindert wird.

Harvey erkannte schließlich, dass Herz, Lunge, Blutgefäße und Körperorgane eine funktionelle Einheit bilden und dass das Herz dabei eine zentrale Rolle spielt. Lediglich ein Baustein fehlte ihm, um den Kreislauf vollends zu erklären: Er wusste nichts vom Kapillarsystem. Und damit fehlte ihm die Antwort auf die Frage, wie das arterielle Gefäß­system mit sauerstoffreichem Blut in das zurückfließende venöse übergeht. Dieses Rätsel sollte erst rund 30 Jahre später der italienische Anatom Marcello Malpighi lösen.2

Mathematik und logische Schlussfolgerung

Harvey musste seine Erkenntnisse vehement verteidigen. Für die Beweisführung nutzte er als einer der ersten in der Medizin die Mathematik. Er überschlug, wie viel Blut in die linke Herzkammer passt und multiplizierte diesen Wert mit der Anzahl der Herzschläge. Obwohl er das Blutvolumen unterschätzte, kam er bei seiner Berechnung auf eine hohe Blutmenge, die pro Stunde durch den Körper gepumpt wird. Das machte ihm klar: So viel Blut kann unmöglich im Körper versickern und so schnell von der Leber neu gebildet werden. Es gibt nur eine mögliche Erklärung: Das Blut zirkuliert.

Viele widersprachen ihm, aber als einer der ersten akzeptierte der französische Philosoph René Descartes die Entdeckung Harveys und fügte sie in sein naturphilosophisches System ein. Das verhalf den neuen Erkenntnissen schließlich zum Durchbruch und ebnete den Weg für die darauf aufbauende medizinische Forschung.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 05/2019 / S.24