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© Mysteryshot/ iStockphoto.com

Remdesivir: Viel Geld für nichts

Finanzkrimi um Covid-19-Medikament

Was hilft bei Covid-19? Ein Arzneimittel wird zuerst in den Himmel gelobt, später spricht sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nach unvorteilhaften Zwischenergebnissen einer Studie gegen den Einsatz aus. Der Anbieter kennt die Studiendaten schon vor ihrer Veröffentlichung. Das hindert ihn nicht, einen milliardenschweren Deal mit der noch ahnungslosen EU-Kommission abzuschließen: der Fall Remdesivir.

Joyce N. Boghosian/White House

Ungesunde Nähe: Am 1.5.2020 verkündete US-Präsident Donald Trump in Anwesenheit von Gilead-Chef Daniel O’Day (2. von links) die Notfallzulassung für Remdesivir.

Als sich Anfang 2020 herausstellt, dass eine Infektion mit dem neuen Coronavirus (SARS-CoV-2) bei manchen Menschen lebensgefährlich verläuft, ist guter Rat teuer: Die Medizin weiß da noch nicht, welche Medikamente die Lage der Erkrankten verbessern oder gar Leben retten können. Schnell starten klinische Studien mit vielen Arzneimitteln.

Einer der Hoffnungsträger: Der virushemmende Wirkstoff Remdesivir. Er war gegen andere Virus-Erkrankungen entwickelt worden, etwa Hepatitis C oder Ebola. Studien hatten bei diesen Erkrankungen jedoch nicht den erhofften Nutzen gezeigt. Im Reagenzglas finden sich jedoch Anhaltspunkte für eine mögliche Wirksamkeit gegen SARS-CoV-2, auch erste Tierversuche verlaufen vielversprechend. In China, in den USA und anderen Ländern wird Remdesivir daraufhin an Covid-19-Patient:innen getestet, auch die WHO beginnt, den Wirkstoff im März 2020 mit der groß angelegten SOLIDARITY-Studie zu untersuchen.1

Erste Ergebnisse und Einkäufe

Die Signale aus den Studien sind im Frühjahr 2020 noch widersprüchlich: So hatte sich in einer kleineren chinesischen Studie kein Nutzen gezeigt, eine US-amerikanische Untersuchung fand in einer Zwischenauswertung Hinweise, dass sich Patient:innen mit Remdesivir möglicherweise schneller erholen. Auf dieser Basis und weil zu diesem Zeitpunkt keine besseren Mittel verfügbar sind, erhält Remdesivir im Mai eine Notfallgenehmigung durch die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA – nicht zuletzt auch auf Druck der Trump-Regierung. Im Juli 2020 folgt eine bedingte Zulassung durch die Europäische Kommission auf Empfehlung der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA). Die WHO veröffentlicht eine zurückhaltende Empfehlung für den Einsatz von Remdesivir.

Konkurrenz belebt das Geschäft

Noch ist Remdesivir knapp: Die US-Regierung ordert im Frühsommer 2020 fast alle weltweit verfügbaren Mengen. In der EU ist das Mittel schwer zu bekommen. Anfang Oktober gibt die Europäische Kommission deshalb eine gemeinsame Bestellung für die EU beim Anbieter Gilead auf: 500.000 Dosen für mehr als eine Milliarde Euro, die über sechs Monate ausgeliefert werden sollen. Eine fünftägige Behandlung kostet damit rund 2.000 Euro.

Der SOLIDARITY-Schock

Umso überraschender die Ergebnisse der großen WHO-Studie, die wenige Tage später2 veröffentlicht werden: Danach ist ein Nutzen von Remdesivir nicht nachweisbar. Auch eine Zusammenschau aller verfügbaren Daten ist ernüchternd: Remdesivir senkt die Sterblichkeit bei Covid-19 nicht, reduziert wahrscheinlich nicht die Notwendigkeit einer Beatmung und beschleunigt auch nicht die Heilung.

Die Konsequenz aus diesen Erkenntnissen: Ende November zieht die WHO ihre Empfehlung für Remdesivir zurück. Nur noch im Rahmen von Studien soll der Wirkstoff bei bestimmten Patientengruppen weiter untersucht werden, ob sie vielleicht doch von der Behandlung profitieren. Auch in der WHO-SOLIDARITY-Studie wird die Testung von Remdesivir fortgesetzt.3 Die EMA beschränkt die Zulassung von Remdesivir auf diejenigen Covid-19-Patient:innen, bei denen in der SOLIDARITY-Studie ein Nutzen nicht ganz ausgeschlossen werden konnte.4

Schädlich für Niere und Leber?

Dabei ist es nicht klar, ob das Mittel nicht auch deutliche Risiken birgt: Derzeit untersucht die EMA Hinweise, ob Remdesivir die Niere schädigen kann. Die Prüfung ist jedoch noch nicht abgeschlossen. In den bisherigen Studien stiegen außerdem bei etwa jedem vierten Behandelten die Leberwerte an, auch das ein Risikosignal.5

Was wusste Gilead?

An dieser Stelle könnte die Geschichte schon zu Ende sein und man könnte das Geschehen unter „dumm gelaufen“ abhaken, nach dem Motto: Dass sich wissenschaftliche Erkenntnisse im Laufe der Zeit verändern können, gehört eben dazu. Gäbe es da nicht deutliche Hinweise, dass der Anbieter Gilead schon Ende September 2020 von den enttäuschenden Ergebnissen der WHO-Studie wusste und dennoch den milliardenschweren Deal mit der EU abgeschlossen hat. Die Europäische Kommission war zu diesem Zeitpunkt nach eigener Auskunft noch ahnungslos, was Gilead jedoch bestreitet.

Nach einer Recherche des British Medical Journal haben verschiedene EU-Länder im Rahmen des Deals bis Anfang Dezember bereits rund 220 Millionen Euro ausgegeben. Auf Anfrage des arznei-telegramm® teilt das deutsche Bundesministerium für Gesundheit mit, dass es von den bestellten 155.000 Dosen (Gesamtpreis mehr als 62 Millionen Euro) bis Anfang Dezember 70.000 erhalten hat. Frankreich und Luxemburg haben nach Bekanntwerden der negativen Ergebnisse nichts mehr bestellt.6

Die Geschichte wiederholt sich

Wer das Gebaren der Pharma-Industrie schon länger verfolgt, hat vielleicht ein Déjà-vu-Erlebnis: Die Remdesivir-Story erinnert stark an den Fall Tamiflu®.7 Verschiedene Regierungen hatten in Vorbereitung auf die erwartete Schweinegrippe-Epidemie große Mengen des Grippemittels mit dem Wirkstoff Oseltamivir geordert. Es stellte sich schließlich heraus, dass der Anbieter Roche zuvor systematisch Daten verschwiegen hat, die darauf hindeuteten, dass der Nutzen verschwindend gering ist, dafür aber Risiken bestehen. Daraus zogen die Verantwortlichen aber keine Lehren: Auch nach Bekanntwerden der ungünstigen Studienergebnisse setzte die Bundesregierung für die Notfall-Bevorratung weiter auf Oseltamivir.8 Zehntausende Dosen wurden inzwischen wegen Ablauf der Haltbarkeit vernichtet.

Pandemie-Profiteur

Anbieter Gilead ist übrigens für hohe Preise bekannt: Für das Mittel Sofosbuvir gegen Hepatitis C verlangte er 2015 das Tausendfache des Herstellungspreises. Auch bei Remdesivir scheint der Gewinn beträchtlich zu sein: Hersteller in Indien, die eine kostenfreie Lizenz für die Produktion von Remdesivir erhalten hatten, können das Mittel für einen Bruchteil des Preises herstellen, den Gilead in Europa und Nordamerika verlangt.9

Sofosbuvir
GPSP 3/2020, S. 22

Oseltamivir
GPSP 6/2012, S. 11

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 02/2021 / S.04