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Gespräche auf Augenhöhe

Was Patienten stark und mündig macht

GPSP: Was bedeutet „Patienten-Empowerment“ eigentlich? Gibt es dafür kein deutsches Wort?

Sylvia Sänger: Bei englischen Begriffen ist es häufig schwierig, ein treffendes deutsches Wort zu finden. „Power“ bedeutet je nach Kontext „Macht“, „Kraft“ oder „Stärke“. Empowerment ist dann der Vorgang, bei dem die Betroffenen „Power“ bekommen, der sie also stark macht. Das hat viel mit Patientenmündigkeit zu tun: An den Stellen, die mir als Patient oder Patientin, als Bürger oder Bürgerin wichtig sind, möchte ich nicht nur die Dinge verstehen, sondern auch konkrete Schritte selbst unternehmen, also handlungskompetent sein. Und auch die nötige Power zu haben, das im Gesundheitssystem durchsetzen zu können.

Ist Empowerment eine Voraussetzung für Patientenbeteiligung?

Unbedingt. Auf der individuellen Ebene können Patienten ihre Wünsche und Erfahrungen in die gemeinsame Therapieentscheidung mit dem Arzt einbringen. Auf der kollektiven Ebene können sie sich daran beteiligen, das Gesundheitssystem ein Stück besser zu machen, etwa indem sie in Leitlinien-Gremien mitarbeiten oder Leitlinien für Ärzte in allgemein verständliche Versionen – die Patientenleitlinien –, übersetzen (siehe GPSP 6/2016, S. 19). Inzwischen können Bürgerin­nen und Bürger sogar Fragen und Vorschläge zur wissen­schaft­li­chen Bewertung von Behandlungsver­fah­ren ein­rei­chen1 und sich so an der Forschung beteiligen.

Beteiligung steht übrigens jedem und jeder laut Patientenrechtegesetz zu. Dazu braucht es aber Kompetenz auf verschiedenen Ebenen (siehe hier folgend).

Was heißt das genau?

Zuerst einmal brauche ich gute und umfassende Informationen. Das ist wichtig, um Nutzen und Risiken verschiedener Untersuchungs- und Behandlungsoptionen gegeneinander abzuwägen und dann zu entscheiden. Hier gibt es auf der individuellen Ebene noch viel Luft nach oben. Ich habe zum Beispiel selbst erfahren, wie wichtig es ist, auch über Nebenwirkungen informiert zu werden. Ein Arzt hatte mir eine bestimmte Therapie vorgeschlagen und sagte in einem wirklich gut gemeinten Paternalismus: „Das vertragen alle Patienten gut.“ Ich habe es aber überhaupt nicht gut vertragen. Der Arzt meinte es gut und ich habe nicht nachgefragt, was ich aber zu meiner eigenen Sicherheit hätte tun sollen.

Woher bekommen Patientinnen und Patienten gute und umfassende Informationen?

Wir haben sehr gute Quellen mit evidenzbasierten Informationen und Entscheidungshilfen. Die sind auch für Laien gut verständlich, aber im Internet nicht leicht aufzuspüren. Derzeit wird ein Nationales Gesundheitsportal geplant, damit alle guten Informationen an einem Ort zu finden sind. Bis dieses Portal fertig ist, wird es aber noch eine Weile dauern.

Reichen Informationen aus, um gesundheitskompetent zu werden?

Zur Gesundheitskompetenz gehört es nicht nur, die Informationen zu finden, sondern auch sie zu verstehen und daraus Entscheidungen abzuleiten. Wir wissen aus Studien, dass manchmal selbst Ärztinnen und Ärzte Schwierigkeiten damit haben, Zahlen zu Nutzen und Risiken von Behandlungen korrekt zu interpretieren. Noch schwieriger ist das für Patienten. Hinzu kommt: Es sind in der Regel sehr individuelle Entscheidungen. Nehmen wir mal an, es gibt für eine Erkrankung ein neues Medikament, und im Vergleich zur bisherigen Standardtherapie profitieren 10 von 100 Patienten zusätzlich. Da kann man nicht allgemeingültig sagen: Das ist viel oder wenig. Sondern jede und jeder einzelne muss sich entscheiden: Für die eine ist diese Chance vielleicht ausreichend, um sich für das neue Medikament zu entscheiden, für den anderen jedoch nicht, wenn er es mit den möglichen Nebenwirkungen aufwiegt. Das abzuwägen müssen und können Patientinnen und Patienten lernen. Während meiner Tätigkeit als Leiterin der Gesundheitsuni Jena haben wir das in speziellen Kursen trainiert.

Neben der Gesundheitskompetenz gehört zum Empowerment auch, mit Arzt oder Ärztin ein Gespräch auf Augenhöhe zu führen. Was bedeutet das?

Augenhöhe meint die gegenseitige Wertschätzung und Anerkennung von Erfahrung und Wissen des jeweils anderen. Die beiden Gesprächspartner müssen also nicht das gleiche Wissen haben, sondern eine bestimmte Haltung einnehmen: Ich respektiere dein Wissen und deine Erfahrung mit dem Problem, das wir beide als Patient beziehungsweise Arzt haben.

Welche Rolle spielt der Austausch mit anderen Betroffenen?

Nicht jedem liegt es, seine Probleme mit fremden Menschen zu diskutieren. Aber es kann für die Bewältigung der eigenen Erkrankung sehr wertvoll sein, andere Betroffene danach zu fragen, wie sie mit einem bestimmten Problem umgehen. Durch das Engagement in Selbsthilfe-Gruppen bekommen Patienten auch eine kollektive Stimme, etwa wenn sie im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) gehört werden.

Besitzt jeder die Fähigkeit zum mündigen Patienten?

Mehr oder weniger ja. Der Begriff Selbstwirksamkeit beschreibt, dass jemand in sich die Ressourcen zur Bewältigung einer Erkrankung findet und aktiviert. Das entdeckt aber nicht jeder, mancher möchte lieber Arzt oder Ärztin die Entscheidung überlassen. Nach dem Gesetz ist jeder Versicherte für seine Gesundheit mit verantwortlich und soll sich auch an allen Maßnahmen zur Vorbeugung, Behandlung und Nachsorge beteiligen. Allerdings muss man Patientinnen und Patienten auch zugestehen, dass sie das ablehnen dürfen oder dass sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht dazu in der Lage sehen. Wichtig ist, dass die Ärzte und Therapeuten das Angebot der Beteiligung immer wieder erneuern, damit der Patient weiß: Ich kann mich jederzeit in die laufende Behandlung einschalten oder eine Person meines Vertrauens in Entscheidungsprozesse einbeziehen. Das darf aber für das Gesundheitssystem keine Ausrede sein, Patientenmündigkeit nicht ausreichend zu fördern.

Lohnt sich Patienten-Empowerment wirklich – und für wen?

Dazu gibt es tatsächlich Studien: Bei den Patienten nimmt das Wissen über Vor- und Nachteile der Behandlungsoptionen zu, sie sind zufriedener mit Arztkontakten und mit ihren Entscheidungen. Sie verstehen die Risiken besser, kommunizieren besser mit den Ärzten und können ihre Krankheiten besser bewältigen. Auch Ärzte sind zufriedener mit dem Patientenkontakt, und sie bekommen viel mehr Informationen. Das ist besonders wichtig, weil die Krankengeschichte und die geschilderten Beschwerden ganz wesentlich zur Diagnosefindung beitragen. Patienten, die sich beteiligen, erzählen einfach mehr: nicht vom Wetter, sondern direkt von ihrer Erkrankung.

Aber kostet das nicht auch viel mehr Zeit?

Das denkt man immer. Man hat aber festgestellt, dass sich die Zeit mit dem einzelnen Patienten nur unwesentlich verlängert, wenn man versucht, gemeinsam zu entscheiden. Keiner muss zusätzlich etwas machen, es geht um die Grundhaltung. Arzt oder Ärztin müssen den Patienten wissen lassen: „Es geht um Sie. Welches Behandlungsziel wollen wir erreichen von denen, die möglich sind? Wir haben diese oder jene Option mit diesen Vor- und Nachteilen.“ Wenn der Arzt einfach etwas vorschlägt und der Patient diskutiert lange, weil er vor dieser Option Angst hat, kann das wesentlich länger dauern.

Was halten eigentlich Ärzte vom mündigen Patienten? Da verändert sich ja vermutlich auch das eigene Rollenverständnis.

Einige Ärzte begrüßen und befördern das. Und erfreulicherweise hat das Thema an vielen Stellen auch Einzug ins Medizinstudium gehalten. Dass das Konzept gut funktionieren kann, habe ich selbst mit jungen Ärzten schon erlebt. Aber häufig gelten Patienten, die sich kritisch mit ihrer Erkrankung auseinandersetzen, die sich informieren und Fragen stellen, als unbequem.

Warum?

Wenn Patienten falsch informiert sind und Behandlungen einfordern, die nicht gut für sie sind, ist das problematisch. Ein Gespräch mit einem fehlinformierten Patienten wird oft scheitern. Manchmal werten Ärzte den kritisch hinterfragenden Patienten als Angriff auf das Vertrauensverhältnis. Aber ein Mensch, der den Mund aufmacht, zweifelt nicht die Fähigkeiten seines Arztes oder seiner Ärztin an. Er will mehr Sicherheit: Wer seine Erkrankung nicht mäkelnd und kontrollierend, sondern mit einem wachsamen Blick begleitet, der kann sich auch schützen.

Gibt es dafür Beispiele?

Es ist immer hilfreich und gut, wenn Patienten etwa im Krankenhaus merken: Ich bekomme heute andere Tabletten als gestern. Oder: Der Arzt hat mich schon zum zweiten Mal mit dem falschen Namen angesprochen. Es geht nicht darum, dass Patienten ihre Ärzte kontrollieren, sie sollen vielmehr selbst auch ein wachsames Auge auf sich haben. Wenn Patienten erwas nicht geheuer vorkommt, oder etwas nicht so läuft wie es laufen sollte, dann sollten sie immer den Mund aufmachen. Gerade dann ist eine gute Kommunikation mit den Ärzten und Pflegenden wichtig und für beide Seiten gilt: Der Ton macht die Musik!

Welche Gesprächsstrategie empfehlen Sie?

Hilfreich ist es, die Situation zu benennen: „Ich weiß, dass hier alle viel zu tun haben. Aber mir macht Angst, dass …“ Also am besten über die Gefühle reden, die man hat: „Ich habe Angst, ich habe Schmerzen.“ Gut ist es, Ich-Botschaften senden: „Mir geht es so und so“, „Ich habe das Gefühl, dass …“ Und nicht mit Vorwurf „Sie sind …“, „Sie haben …“.

Besser ist es zu sagen: „Ich habe das Gefühl, da läuft etwas schief. Könnten Sie da mal bitte hingucken?“ Dann ist der Arzt wieder als kompetenter Partner gefragt.

Gar nicht so einfach.

Klar. Als Patient liegt man im Bett, hat Schmerzen, hat Probleme und man weiß nicht, wie es jetzt weiter geht. Und dann ist es schwierig, sich auch noch um einen guten Gesprächsstil zu kümmern. Aber mit einer wertschätzenden Kommunikation kann man viel auffangen. Das ist eine wichtige Grundhaltung und in allen Lebensbereichen hilfreich und nützlich.

Was müsste sich noch ändern?

Wir müssen die Fähigkeit schulen, Gesundheitsinformationen zu verstehen, am besten schon in der Schule oder Berufsschule. Damit rüsten wir die Menschen aus und machen sie handlungskompetent im Gesundheitssystem. Und wir brauchen Ärztinnen, Pfleger und andere medizinisch Tätige, die anerkennen, dass Menschen mitentscheiden wollen, und das nicht als Angriff auf ihre Therapiefreiheit oder das Arzt-Patienten-Verhältnis werten. Wir brauchen dazu vor allem verständliche und für jedermann zugängliche Gesundheitsinformationen und Entscheidungshilfen.

Vielen Dank für das Gespräch!

G-BA
GPSP 2/2015, S. 6

Die Interviewpartnerin hat keine relevanten Interessenkonflikte.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 01/2018 / S.19