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Schreckgespenst Infektionen

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Sucharit Bhakdi, Karina Reiss (2016) Schreckgespenst Infektionen. Mythen, Wahn und Wirklichkeit. Berlin/Wien: Goldegg Verlag, 310 Seiten, 19,95 €

Vogelgrippe, Krankenhauskeime und Schäden durch unterlassene Impfungen – regelmäßig sorgen ansteckende Krankheiten für große Aufregung. Doch wann ist Vorsicht geboten, und wo beginnt Panikmache? Was sollte jeder Laie wissen? Zwei Fachleute haben für Menschen ohne mikrobiologische Vorbildung ein Aufklärungsbuch in Sachen Infektion geschrieben.

Autoren sind der Arzt Sucharit Bhakdi, der das Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene an der Universität Mainz leitete, und die Biologin Karina Reiss. Sie ist Professorin an der Universitätsklinik Kiel und arbeitet im Bereich Hautkrankheiten.

Zunächst erfahren wir, was Bakterien von Viren unterscheidet, welche Rolle Pilze als Krankheitserreger spielen, und dass auch Parasiten Krankheiten auslösen, etwa die Malaria. Dabei stellen die Autoren gleich zwei Dinge klar: „Die meisten Infektionen finden ohne Erkrankung statt“. Denn der Körper kann sich selbst wehren. Und „die meisten Viren, Bakterien und Pilze sind keine Infektionserreger“. Also: keine Panik und kein übertriebener Desinfektionsfimmel (siehe Beitrag zu Glassello® in dieser Ausgabe, S. 10).

Ohne Frage können Krankheitserreger viel Leid verursachen. Nach Aussage der Autoren starb im 19. Jahrhundert hierzulande jedes siebte Kind an Diphtherie. Heute kann eine Impfung diese Infektion verhindern – und damit wären wir bei einem wichtigen Thema des Buches: Wann machen Impfungen Sinn?

Die Autoren gehen diese Frage besonnen an. Sie erklären, wie Impfungen funktionieren, was aktive und passive Impfung unterscheidet, und wie das Immunsystem reagiert. Und dann folgt ein entscheidender Satz: „Nicht alle empfohlenen Impfungen sind unumstritten und uneingeschränkt zu empfehlen.“ Also immer genau hingucken, um Pauschalurteile zu vermeiden.

Die wichtigsten Infektionen werden einzeln vorgestellt. Sinnvoll sind beispielsweise Impfungen gegen Masern, Mumps, Röteln und Diphtherie. Diese Krankheiten sind zwar bei uns sehr selten geworden, doch sie können zurückkehren. Das hat sich zuletzt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gezeigt: Dort breiteten sich aufgrund der desolaten Lebensverhältnisse und des kollabierten Gesundheitssystems Diphtherie-Infektionen aus. Bei anderen Impfungen ist der Nutzen nicht immer klar. Windpocken, Pneumokokken oder HPV – zum Schutz vor Gebärmutterhalskrebs – gehören dazu. Und schließlich gibt es Impfungen ohne nachweislichen Nutzen.

In weiteren Kapiteln bewerten die Autoren Gesundheitsskandale aus den letzten Jahrzehnten. Sie erläutern, warum die Weltgesundheitsorganisation WHO bei Ebola versagt hat und warum in armen Ländern so viel von einer grundlegenden medizinischen Versorgung abhängt.

Im Fall der Schweinegrippe kritisieren sie, man hätte „Milliarden Steuergelder verbrannt“, und es müsse künftig besser darauf geachtet werden, wer als „Experte“ Entscheidungen treffe. Als Beispiel für übertriebene Panik dient den Autoren der Fall EHEC. Zur Erinnerung: 2011 häuften sich Durchfallerkrankungen, und nahezu täglich wurden neue Gemüsesorten als Träger gefährlicher Keime verdächtigt. Die wahre Herkunft der Erreger ist bis heute nicht geklärt.

Wer das Buch liest, bekommt auch umfangreiche Infos und Tipps zu Alltagsproblemen, zum Beispiel: Muss ich mich vor Krankenhauskeimen fürchten, wenn ich operiert werde? Wie gefährlich sind Legionellen, die Warmwasserleitungen unserer Duschen besiedeln? Wie lässt sich Küchenhygiene organisieren?

Überraschend ist das Fazit der Autoren: Ein 6-Punkte-Plan für ein gesundes langes Leben, bei dem es gar nicht um Hygiene geht! Viel mehr raten sie, auf Zigaretten zu verzichten oder Blutdruck, Blutzucker und Cholesterinwert im Auge zu behalten. Damit ist ihre Botschaft klar: Infektionen sind zwar ein Risiko, aber Gesundheit hängt auch von anderen Faktoren ab, auf die man selbst viel Einfluss hat.

Das Buch nutzt als Stilmittel das Frage-Antwort-Schema und ist flott zu lesen. Die Illustrationen aus der Hand der Autoren sind vielleicht Geschmackssache, zeigen aber, wie sehr sie sich für das Thema begeistern.
Die Sachlichkeit, die Bhakdi und Reiss für den Umgang mit Krankheitserregern einfordern, wünscht man sich allerdings auch bei ihren Kommentaren zur Politik. Die Arbeit der Parlamentarier in Brüssel pauschal als „sinnfreie Tätigkeit“ abzustun, ist plump. Ansonsten ist das Buch rundum lesenswert.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 01/2017 / S.22