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© Ronnachai Palas – istock.com

Besondere Sorgfalt nötig

Arzneimittel für Kinder

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen und Jugendliche keine großen Kinder – auch nicht, wenn sie Arzneimittel benötigen. Der Körper nimmt manche Wirkstoffe je nach Altersstufe anders auf. Auch der Stoffwechsel arbeitet bei Neugeborenen, Säuglingen, Kleinkindern, Schulkindern, Jugendlichen und Erwachsenen unterschiedlich. Das müssen Eltern wissen und Ärzte berücksichtigen, wenn junge Menschen ein Medikament brauchen.

Eltern kennen das Problem: Kann ich meinem Kind eine halbe Tablette geben, wenn ich als Erwachsener eine ganze Tablette nehmen würde? Nein! So einfach ist es leider nicht. Zwar gibt es zum Beispiel Paracetamol und Ibuprofen in kindgerechten Dosierungen zu kaufen. Aber während für Erwachsene ausgetestet wurde, welche Dosis und welcher Einnahmerhythmus optimal sind, sucht man solche Studien für Kinder und Jugendliche meist vergebens. Das betrifft vor allem Herz-Kreislauf-Mittel, Narkosemittel, Antibiotika, Arzneimittel gegen Krebs – aber eben auch gängige Schmerzmittel.

Alltag, aber problematisch

Weil es die notwendigen Studien nicht gibt, ist der Großteil der Wirkstoffe nur für Erwachsene zugelassen, nicht für Kinder! Werden sie dennoch Kindern verordnet, verstößt der Arzt oder die Ärztin genau genommen gegen das Gesetz. In der Fachsprache des Arzneimittelrechts bezeichnet man diese Praxis als „Off-Label-Use“ (Verordnung ohne entsprechende Zulassung, siehe Kasten).1 Der Anteil solcher Verordnungen in Arztpraxen beträgt etwa ein Drittel, auf Neugeborenen-Intensivstationen in Kliniken liegt er bei 90 %.2

Daran hat sich in den letzten 15 Jahren praktisch nichts verändert. Für viele Arzneimittel fehlt auch eine kindgerechte Darreichungsform (siehe Artikel S. 13). Also müssen Eltern oder Pflegepersonal oft notgedrungen Tabletten pulverisieren und mit der Nahrung vermischen. Das ist durchaus ein riskantes Unterfangen, denn zu schnell kann zu wenig oder sogar zu viel gegeben werden. Dazu passt, was schon lange bekannt ist: Die Off-Label-Anwendung ist bei Kindern mit mehr unerwünschten Wirkungen verbunden als bei zugelassenen Medikamenten.3

Ethisches Dilemma

Dass es zu wenige Erkenntnisse aus Studien mit Kindern gibt, hat mehrere Ursachen: Häufig sind Pharmaunternehmen nicht an solchen Untersuchungen interessiert, denn die kosten Geld und die Gewinnaussichten bei Kinderarzneimitteln sind den Firmen nicht hoch genug.

Studien mit Kindern unterliegen besonderen ethischen Herausforderungen: Wer an einer Arzneimittelstudie teilnimmt, sollte dadurch keinen Schaden erleiden. Wie bei Erwachsenen müssen zuvor selbstverständlich der Nutzen und das Risiko gegeneinander abgewogen werden. Für Kinder sind die Maßstäbe dabei besonders streng. Während Erwachsene in der Regel voll eigenverantwortlich handeln, hängt die Einwilligungsfähigkeit bei Kindern vom Alter ab. Seit 2004 ist das gesetzlich eindeutig geregelt. Der ausdrückliche Wunsch eines Kindes oder Jugendlichen, nicht an der Studie teilzunehmen oder wieder auszusteigen, darf nicht übergangen werden. Grundsätzlich müssen bei Minderjährigen immer alle Sorgeberechtigten einwilligen.

Blick nach vorne

Weil die Behandlung von Kindern sicherer werden soll, wurde 2007 eine EU-Verordnung erlassen, die – nach dem Vorbild der US-amerikanischen Arzneimittelzulassungsbehörde FDA – als Anreiz für die pharmazeutische Industrie gedacht ist:4 Wer ein neues Medikament entwickelt oder die Zulassung für ein neues Anwendungsgebiet beantragt, muss ein Konzept vorlegen, wie er das Präparat und dessen Nutzen für Kinder prüfen will (wenn das Medikament im Kindesalter von Bedeutung ist).

Das Konzept muss zunächst vom so genannten Pädiatrieausschuss der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) geprüft werden. Wenn dann die Studien wie geplant durchgeführt wurden, erhält das Unternehmen sechs Monate mehr Patentschutz – sozusagen als Ausgleich für seine Mehrkosten. Das gilt auch für den Fall, dass die Resultate nicht überzeugen und der Hersteller keine Zulassung seines Produkts für Kinder bekommt.

Allerdings gibt es auch Ausnahmen: Für Biopharmazeutika 
(Biologika) sowie homöopathische und traditionelle pflanzliche Mittel ist keine kinderbezogene Prüfung vorgeschrieben, obwohl das absolut sinnvoll wäre.

Sonderregeln für Generika

Bei Arzneimitteln, die schon länger auf dem Markt sind und deren Patent abgelaufen ist (Generika), haben die Anbieter kein Interesse an Studien mit Kindern. Deshalb gibt es da einen besonderen Anreiz: Ein Unternehmen kann eine offizielle Zulassung seines Präparats als Arzneimittel für Kinder bekommen, wenn es entsprechende Studien liefert. Es darf dann exklusiv zehn Jahre lang dieses Präparat als Kinderarznei vertreiben – und ist vor Konkurrenz geschützt. Diese Regelung wurde in Deutschland bisher kaum angewendet, weil es sich für die Firmen nicht rechnet.

Das ist gut: Die Daten aus allen laufenden, abgeschlossenen und vorzeitig abgebrochenen Studien mit Kindern werden in einem EU-Register3 erfasst, damit Studien mit Kindern nicht unnötig wiederholt werden.

Um weitere Wissenslücken in Sachen Kinderarzneimittel zu schließen, versucht die EU zusätzlich, gezielt Forschung zu fördern – etwa an Universitäten.

Besserung in Sicht?

Für neu zugelassene Medikamente sind dank der EU-Verordnung von 2007 schon etliche Studien durchgeführt worden. Das hat die Informationslage zur korrekten Anwendung vieler Arzneien bei Kindern verbessert.

Für viele der Medikamente, die schon länger auf dem Markt sind, ist aber kaum Besserung in Sicht. Für eine Arzneimitteltherapie, die dem Alter angepasst ist, fehlen auch weiterhin oft die notwendigen Studiendaten.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 03/2016 / S.23