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Studien-Wildwuchs

Wie die Cochrane Collaboration für Übersicht sorgt

Wer krank ist, möchte optimal behandelt werden. Dazu gehört, dass Ärzte und auch die Verantwortlichen in der Gesundheitspolitik oder bei den Krankenkassen auf dem aktuellen Stand des Wissens sind. Der Einzelne kann die Studienlage nur noch in kleinen Bereichen überschauen. Deshalb sind die systematischen Übersichtsarbeiten der Cochrane Collaboration so wichtig.1 Aufsehen erregte das internationale Netzwerk zuletzt mit der Negativbewertung von „Cranberries zur Verhütung von Harnwegsinfektionen“ und von „Gesundheits-Checks“. Wir fragten Gerd Antes, wie Cochrane-Übersichten zustande kommen und welchen Einfluss sie haben.

GPSP: Das Thema „Gesundheits-Check“2 at die Cochrane Collaboration zuletzt bis in die Tagesthemen gehievt. Worum ging es?

Prof. Dr. Gerd Antes: Unsere Kollegen in Kopenhagen haben 14 Studien mit rund 180.000 Personen ausgewertet, in denen es um die Frage ging,
ob Menschen länger leben, wenn sie regelmäßig zu allgemeinen Gesundheits-Checks gehen.

Und die Antwort ist ….

Nein. Studien belegen nicht, dass diese allgemeinen Kontrollen das Leben verlängern. Auch für schwere Krankheiten wie Krebs- oder Herzerkrankungen ist es nicht dokumentiert. Auf andere Aspekte zeigen regelmäßige Gesundheits-Checks allgemeiner Art ebenfalls keine Auswirkungen, zum Beispiel auf Krankenhauseinweisungen und Krankentage.3 Zudem gibt es Hinweise auf ungünstige Auswirkungen.

Aber die gesetzlichen Krankenkassen bezahlen Kontrolluntersuchungen alle zwei Jahre für Männer und Frauen über 35 Jahre.

Ja. Es wird also Diskussionen geben. Die neue Übersichtsarbeit hat allerdings nur diese allgemeinen Checks berücksichtigt. Und es wäre gut, wenn wir noch mehr gute Studien zu dem Thema hätten, denn der Nutzen mancher Checks ist erstaunlich schlecht untersucht.

Kommen wir auf die generelle Bedeutung der Cochrane Collaboration zurück. Offenbar schaffen es die praktisch tätigen Ärzte nicht, angesichts der Menge neuer Studien, den Überblick zu behalten?

Da liegt ein großes Problem, und das sah bereits vor über 40 Jahren der Arzt Archibald Cochrane, dessen Name die Cochrane Collaboration trägt. Er erkannte, dass es keinen Sinn macht, für Entscheidungen in der Medizin immer nur einzelne Studien heranzuziehen. Vielmehr muss man konsequent das Gesamtbild der relevanten Studien zu jeder einzelnen Frage betrachten. Der Brite Cochrane hat beklagt, dass viele Therapieentscheidungen aus dem Bauch heraus getroffen werden. Mit einem berühmten Buch4 hat er den Grundstock für das gelegt, was wir heute tun.

©Prescrire-Alain Savino

Wie ging es weiter?

Iain Chalmers, ein Facharzt für Geburtshilfe, hat in den 1970er Jahren Archibald Cochranes Gedanken weiter gedacht und
argumentiert: Wer sich nur eine Studie anschaut, kann durch die entsprechende Auswahl mehr oder weniger alles als richtiges Vorgehen begründen – je nachdem welche Studie er sich gerade vornimmt.

Es kommt also auf die Gesamtschau an. Was hat Chalmers daraus für Konsequenzen gezogen?

Er hat ein Pilotprojekt initiiert und im Verlauf von 15 Jahren zu wichtigen %emen rund um die Geburt etwa 600 systematische Übersichtsarbeiten erstellt. Das sind zwei dicke Wälzer mit „Systematic Reviews“, wie wir diese Übersichten nennen. Durch diese Pionierleistung haben immer mehr Leute begriffen, welchen enormen Nutzen es hat, auf Studien mit  einheitlichen Methoden zu schauen und die Ergebnisse aller relevanten, hochwertigen Studien zusammen zu fassen. 1992 – also 20 Jahre nach Cochranes visionärem Buch – wurde dann das erste Cochrane Centre in Oxford gegründet.

Wie finden Sie die relevanten hochwertigen Studien?

Das ist der erste wichtige Schritt und nicht trivial. In den englischsprachigen elektronischen Datenbanken zu recherchieren, ist einfach, aber zum Beispiel sind die oft hervorragen den japanischen Studien häufig nur auf Japanisch publiziert. Wir versuchen grundsätzlich Arbeiten in Landessprache in unsere englischsprachigen Übersichtsarbeiten einzuschließen.

Was passiert nach der Suche?

Der nächste Schritt ist, die Qualität der Studien einheitlich nach einem detailliert festgelegten Verfahren zu bewerten, und dabei spielen natürlich die Grund sätze der evidenzbasierten Medizin5 die Hauptrolle. Und dann werden die Studien mit der immer gleichen Methodik zusammengefasst. Der rote Faden dabei ist, die systematischen Fehler, die Wissenschaftler nun mal machen, in jedem der Schritte zu minimieren.

Was könnte ein solcher Fehler sein?

Ein typischer Fehler entsteht leicht bei der Randomisierung.

Also etwa bei der Verteilung von Studienteilnehmern auf die Untersuchungsgruppe mit Medikament A und die zweite mit Medikament B.

Genau. Es darf nicht sein, dass beispielsweise in einer Gruppe weniger gesunde Menschen sind als in der anderen. Jeder weiß, dass etwa die Konstitution von Rauchern schlechter ist und sie insgesamt gefährdeter sind. Wenn also in einer Gruppe mehr Raucher sind, ist der Vergleich der beiden Behandlungen davon überlagert, dass die Patientengruppen verschieden zusammengesetzt sind. Man muss wissen: Wer einen solchen Fehler gezielt anwendet, kann mit diesem Trick das Ergebnis in eine gewünschte Richtung lenken, also die Resultate verfälschen. Eine gute Randomisierung verhindert das.

Wie denn?

Indem sie sicher stellt, dass in ausreichend großen Studien die Einflussgrößen wie beispielsweise Rauchen gleichmäßig in beiden Gruppen vorkommen. Mehr noch, und das wird regelmäßig vergessen, die Randomisierung ist die einzige Technik, auch unbekannte oder „vergessene“ Einflussgrößen auszubalancieren.6 Kommen zwei scheinbar gleich konzipierte Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen, kann das daran liegen, dass bei einer nicht sorgfältig randomisiert wurde.

Wird eine schlecht gemachte Studie denn in Ihren Übersichtsarbeiten berücksichtigt?

Das kommt auf Art und Ausmaß der Fehler an. Aber wir machen immer auch transparent, warum eine Studie nicht berücksichtigt wurde. Es gibt ein spezielles Handbuch für die Wissenschaftler, die solche Reviews erstellen. Es ist das Grundgerüst, mit dem wir Studien einheitlich bewerten und einordnen.

An einigen Cochrane Reviews gab es Kritik.

Die Collaboration ist ein Netzwerk, bei dem Fachleute in Kooperation mit den weltweit 52 Cochrane Gruppen Übersichtsarbeiten erstellen. Wir sind Teil der Wissenschaft, und die lebt von Gegensatz und Auseinandersetzung. Doch Kritik nehmen wir sehr ernst.

Wie wirkt sich Ihre Arbeit aus?

Die Cochrane Collaboration ist seit zwei Jahren offiziell bei der Weltgesundheitsorganisation dabei. Auch deshalb setzen immer mehr Länder, die gegenwärtig ihr Gesundheitssystem reformieren, auf Cochranes Konzepte. Die Idee der systematischen Übersichten hat längst viele Anhänger gefunden. Seit 2010 fordert zum Beispiel The Lancet als eine der führenden Medizinzeitschriften von den Autoren, dass sie neue Studienergebnisse immer in den Kontext des bestehenden Wissens einordnen. Die schlichte Frage ist generell, welche Behandlung oder Diagnose ist am effektivsten. „Knowing what works“,7 hat die wohl wichtigste US-Organisation zu Gesundheitsfragen das Problem auf den Punkt gebracht.

Wie berücksichtigen Sie und andere, dass vor allem diejenigen medizinischen Studien veröffentlicht werden, die einen positiven Effekt zeigen?

Diese Schieflage, der so genannte Publikationsbias, macht uns extrem zu schaffen. Wir versuchen, an die Studien heranzukommen, die Wissenschaftler aus unterschiedlichen Gründen nicht publiziert haben. Der Erfolg ist jedoch nur mäßig.

Öfters steckt die pharmazeutische Industrie dahinter wie bei Oseltamivir (S. 11) oder dem Antidepressivum Reboxetin (GPSP 1/2010, S. 12). Da hielt der Hersteller Hersteller Pfizer Studien mit ungünstigem Ergebnis unter Verschluss. Um das Mittel zu bewerten, hatte das IQWiG8 auf die Herausgabe gepocht. Und sie bekommen!9

Das IQWiG hat es da als von der Gesetzgebung getragener Teil des deutschen Gesundheitssystems etwas leichter. Aber wir bemühen uns sehr, sind jedoch auf Wohlwollen und Kooperationsbereitschaft der Industrie angewiesen.

Kürzlich hat die Cochrane Collaboration eine überarbeitete Bewertung der sehr beliebten Cranberry- Produkte publiziert. Das Urteil fiel jetzt deutlich negativer aus.10 (Seite 14) Wie kommt das?

©Prescrire-Alain Savino

Wir hatten von Anfang an den Anspruch, die Übersichten aktuell zu halten. Alle unsere Dokumente, die in einer Datenbank abrufbar sind (siehe Kasten rechts), werden stetig weiterentwickelt, man nennt sie auch lebende Artikel. Zu Cranberries und Harnwegsinfekten wurden für die Überarbeitung jetzt 14 neue Studien berücksichtigt. Die haben den Ausschlag zur klaren Abwertung gegeben.

Spielt es eine Rolle, ob Studien groß oder klein sind?

Sicher. Kleine Studien sagen nicht so viel aus und sind oft von schlechterer Qualität, deswegen die Forderung nach weniger und größeren Studien. Der Einfluss einzelner Studien auf die Ergebnisse wird nach der Studiengröße gewichtet, d. h. sehr kleine haben praktisch keine Bedeutung.

Können Sie das konkret machen?

Gegenwärtig laufen in den USA und Europa Studien zur Bedeutung des PSA-Tests auf Prostatakarzinom mit weit über 100.000 Männern. Wir werden also vermutlich bald genauer wissen, ob Männer von dieser Früherkennungsmaßnahme profitieren.11 Solche großen Studien sind außerordentlich wichtig und dominieren natürlich unsere Zusammenfassungen.

Herr Antes, vielen Dank für das Gespräch.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2012 / S.19